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Die historischen Romane

Die historischen Romane

Titel: Die historischen Romane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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heiligen Franz von Assisi – und vielleicht auch ein wenig auf die Grillen, die man den Fratizellen und Spiritualen aller Art, den jüngsten und beunruhigendsten Sprösslingen des Franziskanerordens, zu unterstellen pflegte. Doch Bruder William tat so, als habe er die Anzüglichkeit überhört.
    »Die Bilder an den Rändern der Manuskripte reizen uns häufig zum Lachen, aber sie tun es nur zu erbaulichen Zwecken«, erwiderte er. »Wie man in Predigten vor dem Volk oft Exempla einführen muss, und nicht selten ergötzliche, um die Phantasie der frommen Zuhörer anzuregen, so muss auch die Rede der Bilder sich dieser Possen bedienen. Für jede Tugend und jede Sünde gibt es ein Beispiel in der Welt der Tiere, und die Tiere spiegeln die Welt der Menschen.«
    »Oh, gewiss doch!« höhnte der Alte, ohne die Miene zu verziehen. »Jedes Bildnis ist gut, um die Menschen zur Tugend anzuhalten, damit am Ende die Krone der Schöpfung, auf den Kopf gestellt und mit den Beinen nach oben, zum Anlass groben Gelächters wird! So offenbart sich das Wort des Herrn im Esel, der auf der Leier spielt, im Tölpel, der mit dem Schilde pflügt, im Ochsen, der sich von allein vor den Pflug spannt, in Flüssen, die den Berg hinauffließen, in Meeren, die sich entzünden, im Wolf, der zum frommen Einsiedler wird! Jagt die Hasen mit Ochsen, lasst euch die Grammatik von den Spatzen beibringen, die Hunde mögen die Flöhe beißen, die Blinden mögen die Stummen betrachten, und Stummen schreien nach Brot! Die Ameisen mögen Kälber gebären, gebratene Hühner fliegen, die Fladenkuchen wachsen auf Dächern, Papageien halten Rhetorikkurse, die Hennen bespringen die Hähne, spannt die Karren vor die Ochsen, lasst die Hunde in Betten schlafen und lasst uns alle hinfort auf den Köpfen gehen! Was sollen all diese Possen? Eine verkehrte Welt, erfunden als Gegenteil der von Gott geschaffenen unter dem Vorwand, Gottes Gebote zu lehren!«
    »Aber der große Areopagit hat gelehrt«, gab William sanft zu bedenken, »dass Gott nur durch die allerverzerrtesten Dinge benannt werden kann. Und Hugo von Sankt Viktor hat uns daran erinnert, als er sagte: Je mehr die Ähnlichkeit sich unähnlich macht, desto mehr enthüllt sich die Wahrheit unter dem Schleier erschreckender oder schamloser Figuren und desto weniger heftet sich die Phantasie ans fleischliche Verlangen, sondern sieht sich vielmehr gezwungen, die Geheimnisse aufzudecken, die sich unter der Schändlichkeit der Bilder verbergen...«
    »Ich kenne das Argument! Und voller Scham muss ich zugeben, dass es das Hauptargument unseres Ordens war, als die cluniazensischen Äbte im Streit mit den Zisterziensern lagen. Aber Sankt Bernhard hatte recht: Wer ständig Monster darstellt und Missbildungen der Natur, um die Dinge Gottes zu offenbaren per speculum et in aenigmate , der gewinnt allmählich Gefallen an den Scheußlichkeiten, die er ersinnt, und ergötzt sich an ihnen und sieht am Ende nichts anderes mehr als sie! Schaut nur, ihr, die ihr noch euer Augenlicht habt, auf die Kapitelle in eurem Kreuzgang«, und er deutete mit erhobener Hand aus dem Fenster hinüber zur Kirche. »Was bedeuten unter den Augen der meditierenden Mönche jene lächerlichen Monstrositäten, jene deformierte Formenpracht, jene formenprächtigen Deformationen? Jene schmutzigen Affen? Jene Löwen, jene Zentauren, jene menschenähnlichen Wesen, die den Mund am Bauch haben und nur einen Fuß und Segelohren? Jene gescheckten Tiger, jene kämpfenden Krieger, jene munter in ihre Hörner stoßenden Jäger? Und jene vielen Leiber an einem einzigen Kopf und jene vielen Köpfe an einem einzigen Leib? Vierbeiner mit Schlangenhäuptern, Fische mit Vierbeinerköpfen, da ein Tier, das vorn ein Pferd zu sein scheint und hinten ein Ziegenbock, dort ein pferdeähnliches Wesen mit Hörnern, und so immer weiter! Heutzutage ist es für einen Mönch ergötzlicher, die steinernen Bilder zu lesen anstatt die gelehrten Schriften, und die Werke von Menschenhand zu bewundern anstatt fromm zu meditieren über die Gesetze Gottes! Schande, Schande über die Gier eurer Augen und euer Gelächter!«
    Schwer atmend hielt der Greis inne. Und ich bewunderte sein genaues Gedächtnis, hatte er doch, obwohl vielleicht schon seit Jahren erblindet, noch sämtliche Bilder im Kopf, deren Schändlichkeit er so lebhaft schilderte. Ja, mir kam der Verdacht, dass diese Bilder ihn seinerzeit sehr erregt haben mussten, als er sie sah, wenn er sie immer noch mit solcher Leidenschaft

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