Die historischen Romane
geschieht, alle Monster der Meerestiefe, die Morgen- und Abendröte, die Menschenmassen, die im Ultima Thule leben, ein silbriges Spinnennetz inmitten einer schwarzen Pyramide, die Flocken einer kalten weißen Substanz, die im August vom Himmel herab auf das Versengte Afrika fallen, sämtliche Wüsten dieser Welt, jeden Buchstaben auf jeder Seite jedes Buches, rosige Sonnenuntergänge über dem Sambatyon, das Tabernakel der Welt zwischen zwei spiegelnden Steinplatten, die es endlos vervielfältigten, Wasserflächen wie Seen ohne Ufer, Stiere, Sturzfluten, alle Ameisen, die es auf der Erde gibt, eine Sphäre, die den Gang der Sterne reproduziert, das pochende Geheimnis des eigenen Herzens und der eigenen Eingeweide sowie das Gesicht eines jeden von uns, wenn wir vom Tod entstellt sein werden ...
»Wer erzählt denn den Leuten hier solche Lügenmärchen?« fragte sich der Poet empört, während Baudolino vorsichtig zu antworten versuchte, indem er sagte, die Wunder des fernen Okzidents seien gewiss zahlreich, auch wenn bisweilen das Gerücht, das vergrößernd über Täler und Berge fliege, zu übertreiben beliebe, und gewiss könne er bezeugen, dass er nie irgendwo in den Ländern der untergehenden Sonne Christen gesehen habe, die Löwen verspeisten. »Jedenfalls nicht an Fastentagen«, fügte der Poet halblaut knurrend hinzu.
Sie merkten, dass ihre bloße Anwesenheit die Phantasie dieses jungen Fürsten entzündet hatte, der da ewig eingeschlossen in seinem runden Gefängnis saß, und sie machten sich klar, dass man, wenn man im Land der aufgehenden Sonne lebt, nicht umhinkann, von den Wundern des Abendlandes zu träumen – besonders wenn man, fügte der Poet wieder halblaut und zum Glück auf teutonisch hinzu, an einem so miesen Ort wie Pndapetzim lebte.
Schließlich begriff der Diakon, dass auch seine Gäste etwas wissen wollten, und zeigte Verständnis dafür, dass sie sich nach so vielen Jahren der Abwesenheit vielleicht nicht mehr erinnerten, wie man in jenes Reich zurückfand, aus dem sie der Tradition nach gekommen waren, auch weil in den Jahrhunderten seither allerlei Erdbeben und andere Transformationen des Landes die Form der Berge und Ebenen gründlich verändert hatten. Er erläuterte, wie schwierig es sei, die Schlucht und den Sumpf zu überwinden, und machte darauf aufmerksam, dass die Regenzeit bald einsetzen werde, weshalb es nicht ratsam sei, die Reise sofort anzutreten. »Außerdem müssen meine Eunuchen«, sagte er, »erst Boten zu meinem Vater schicken, um ihn auf euren Besuch vorzubereiten, und diese Boten müssen mit seiner Einwilligung zu eurer Reise zurückkehren. Der Weg ist weit, das alles wird mindestens ein Jahr und vielleicht noch länger dauern. In der Zwischenzeit könnt ihr hier auf die Ankunft eures Mitbruders warten. Selbstverständlich werdet ihr eurem Rang gemäß untergebracht sein.« Er sprach mechanisch, als sagte er eine soeben gelernte Lektion auf.
Die Gäste fragten ihn, was die Funktion und Aufgabe eines Diakons Johannes sei, und er erklärte es ihnen: Zu ihrer Zeit sei es vielleicht noch nicht so gewesen, aber die Gesetze des Reiches seien kurz nach der Abreise der Magier geändert worden. Man dürfe nicht meinen, der Priester sei ein einzelner Mensch, der ununterbrochen seit Jahrtausenden herrsche, es handle sich vielmehr um einen Titel. Beim Tod eines Priesters besteige sein jeweiliger Diakon den Thron. Unverzüglich machten sich dann Würdenträger des Reiches auf, um alle Familien zu besuchen und anhand bestimmter wunderbarer Zeichen ein Kind zu identifizieren, das nicht älter als drei Monate sein dürfe und zum künftigen Erben und Adoptivsohn des Priesters bestimmt sei. Dieses Kind werde von seiner Familie mit Freude hergegeben und sogleich nach Pndapetzim geschickt, wo es während seiner Kinder- und Jugendjahre darauf vorbereitet werde, seinem Adoptivvater nachzufolgen, ihn zu fürchten und zu lieben. Der junge Mann sprach mit trauriger Stimme, denn es sei das Schicksal eines jeden Diakons, sagte er, seinen Vater niemals kennenzulernen, weder den leiblichen noch den geistigen, den er nicht einmal auf der Totenbahre zu sehen bekomme, denn vom Zeitpunkt seines Todes bis zu dem, an welchem sein Erbe in der Hauptstadt des Reiches eintreffe, vergehe mindestens ein Jahr.
»Was ich von ihm sehen werde«, sagte er, »und ich hoffe aufs innigste, dass es erst so spät wie möglich sein wird, ist lediglich ein Abbild auf dem Grabtuch, in das er vor der Beerdigung
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