Die historischen Romane
Erscheinung ist? Hat er nur eine Szene gemacht, wie ein Schauspieler?« Der Poet hatte das eigentlich nur gefragt, weil er dachte, er könne durch Bezeugung von Scharfsinn und Durst nach Erkenntnis die Blemmyerfrau verführen, auf die er ein Auge geworfen hatte, aber die entgegengesetzte Wirkung trat ein. Die ganze Gemeinde schrie auf: »Anathema! Anathema!«, und unsere Freunde begriffen, dass der Moment gekommen war, die Versammlung fluchtartig zu verlassen. So war es dem Poeten aufgrund übertriebener theologischer Spitzfindigkeit misslungen, seine drängende fleischliche Leidenschaft zu befriedigen.
Während Baudolino und die anderen Christen sich diesen Erfahrungen widmeten, befragte Solomon die Einwohner von Pndapetzim einen nach dem anderen, ob sie etwas von den zehn verstreuten Stämmen wüssten. Gavagais am ersten Tag gemachte Bemerkung über die Rabbiner hatte ihm gesagt, dass er auf dem richtigen Weg war. Doch ob nun die Monster der verschiedenen Rassen wirklich nichts wussten, oder ob das Thema mit einem Tabu belegt war, jedenfalls gelang es Solomon nicht, irgend etwas herauszubekommen. Schließlich sagte ihm einer der Eunuchen, jawohl, der Tradition nach seien Gruppen von Juden durch das Reich des Priesters Johannes gezogen, vor vielen Jahrhunderten sei das gewesen, aber dann hätten sie beschlossen weiterzuziehen, vielleicht aus Furcht, dass die angedrohte Invasion der Weißen Hunnen sie zu einer neuen Diaspora zwingen könnte, und Gott allein wisse, wohin sie gezogen seien. Solomon kam jedoch zu dem Schluss, dass der Eunuch log, und wartete weiter darauf, endlich in jenes Reich zu kommen, wo er seine Glaubensbrüder bestimmt finden würde.
Manchmal versuchte Gavagai, seine Schutzbefohlenen zum richtigen Denken zu bekehren. Der Vater sei doch unbestreitbar das Vollkommenste und am weitesten von uns Entfernte, was es im Universum geben könne, nicht wahr? Wie könne er dann einen Sohn gezeugt haben? Die Menschen zeugten Söhne, um in ihren Nachkommen weiterzuleben, auch noch in jener Zeit, die sie nicht mehr selber erleben würden, weil ihr Tod dazwischengekommen sei. Aber ein Gott, der es nötig habe, einen Sohn zu zeugen, wäre nicht schon von Anbeginn aller Zeiten vollkommen. Und wenn der Sohn schon immer zusammen mit dem Vater existiert hätte, als Teil derselben göttlichen Substanz oder Natur oder wie immer man das nennen wolle (hier geriet Gavagai durcheinander und nannte griechische Begriffe wie ousia, hypostasis, physis und hyposopon , die auch Baudolino nicht klar auseinanderhalten konnte), dann hätten wir den unglaublichen Fall, dass ein Gott, der qua Definition ungezeugt ist, seit Anbeginn der Zeiten gezeugt wäre. Infolgedessen sei der Logos, den der Vater zeuge, auf dass er sich um die Erlösung der Menschheit kümmere, nicht von derselben Substanz wie der Vater: Er werde später gezeugt, sicher vor der Erschaffung der Welt und auf höherer Stufe als jede andere Kreatur, aber ebenso sicher auf niedrigerer als der Vater. Der Christus sei gewiss nicht irgendeine Potenz wie die Heuschrecke, er sei vielmehr eine große Potenz, aber er sei erstgeboren und nicht eingeboren.
»Demnach ist für euch der Sohn«, fragte Baudolino, »nur vom Vater adoptiert und folglich nicht Gott?«
»Nein, aber trotzdem Allerheiligster, so wie Allerheiligster Diakon, der ja Adoptivsohn von Priester. Wenn funktioniere mit Priester, warum soll nicht auch funktioniere mit Gott? Ich gehört, dass Poet Blemmys gefragt, warum Jesus, wenn bloß Phantasma, Angst gehabt in Garten Gethsemane und geklagt an Kreuz. Blemmys, die schlecht denke, nicht wisse, was darauf antworten. Richtige Antwort: Jesus nicht Phantasma, sondern Adoptivsohn, und Adoptivsohn kann nicht alles so wissen wie Vater. Du versteh? Sohn nicht homoousios , von gleichem Wesen wie Vater, sondern homoiousios , von ähnlichem Wesen. Wir nicht Häretiker wie Anomöer, die behaupte, dass Logos nicht einmal wesensähnlich dem Vater, sondern ganz anders. Aber zum Glück wir habe hier in Pndapetzim keine Anomöer. Die denke noch schlechter als alle andern.«
Da Baudolino, als er diese Geschichte erzählte, auch gesagt hatte, dass unsere Freunde sich weiter fragten, was es denn für einen Unterschied mache, ob Christus homoousios oder homoiousios sei und ob Gott sich auf zwei kleine Wörter reduzieren lasse, hatte Niketas lächelnd gesagt: »Das macht einen Unterschied, o ja, das macht einen Unterschied! Vielleicht sind diese Streitfragen bei euch im
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