Die historischen Romane
Kontroversen, die in seiner Provinz tobten, und ihm schien, dass er bei der Antwort melancholisch lächelte. »Das Reich des Priesters ist uralt«, sagte er, »und in ihm haben alle Sekten Zuflucht gefunden, die im Lauf der Jahrhunderte aus der christlichen Welt des Okzidents ausgestoßen wurden.« Es war klar, dass für ihn auch Byzanz, von dem er wenig wusste, zum Fernen Okzident gehörte. »Der Priester hat keinem dieser Ausgestoßenen seinen Glauben nehmen wollen, und die Predigt vieler von ihnen hat die verschiedenen Bewohner des Reiches in Versuchung geführt. Aber schließlich, was macht das schon, wozu muss man wissen, wie die Allerheiligste Dreifaltigkeit wirklich beschaffen ist? All diese Leute brauchen bloß die Gebote des Evangeliums zu befolgen, und sie werden nicht in die Hölle kommen, bloß weil sie meinen, dass der Heilige Geist allein vom Vater ausgeht. Es sind gute Leute, du wirst es bemerkt haben, und mir bricht das Herz bei dem Gedanken, dass sie vielleicht eines Tages allesamt umkommen werden, benutzt und verheizt als Bollwerk gegen die Weißen Hunnen. Jawohl, Baudolino, so ist es: Solange mein Vater am Leben ist, herrsche ich über ein Reich von Todgeweihten. Aber vielleicht sterbe ich ja vor ihm.«
»Was sagst du da, edler Herr? An deiner Stimme höre ich und schon wegen deines Erbpriester-Amtes weiß ich, dass du noch jung bist!« Der Diakon schüttelte traurig den Kopf. Da versuchte Baudolino ihn zu erheitern und erzählte ihm von seinen Studentenstreichen in Paris, doch er merkte, dass er damit nur unbändig-wilde Gelüste im Herzen des jungen Mannes weckte und zugleich Erbitterung darüber, dass er diese Gelüste nicht befriedigen konnte. So zeigte sich Baudolino als der, der er war und gewesen war, und vergaß, sich als einen der Magier auszugeben. Aber auch der Diakon legte keinen Wert mehr auf diese Fiktion und ließ durchblicken, dass er an die elf Magier ohnehin nie geglaubt und nur nachgesprochen habe, was ihm die Eunuchen vorgesagt hatten.
Angesichts seines offenkundigen Grams darüber, dass er von den Freuden der Jugend ausgeschlossen war, versuchte Baudolino ihm eines Tages klarzumachen dass man das Herz auch voller Liebe für eine unerreichbare Geliebte haben konnte, und erzählte ihm von seiner Leidenschaft für eine hochedle Dame und von den Briefen, die er an sie geschrieben hatte. Der Diakon hörte ihm mit wachsender Erregung zu, dann brach er in eine heftige Klage aus: »Alles ist mir verboten, Baudolino, auch eine bloß geträumte Liebe. Wenn du wüsstest, wie gern ich an der Spitze eines Heeres reiten würde, dem Geruch des Windes folgend und dem Geruch des Blutes! Tausendmal besser, in der Schlacht zu sterben, den Namen der Geliebten auf den Lippen, als hier in dieser Höhle zu sitzen und zu warten ... auf was? Vielleicht auf nichts ...«
»Aber, edler Herr«, sagte Baudolino, »du bist dazu ausersehen, das Oberhaupt eines großen Reiches zu werden. Eines Tages wirst du – Gott gebe deinem Vater ein langes Leben – diese Höhle verlassen, und Pndapetzim wird nur die letzte und abgelegenste deiner Provinzen sein.«
»Eines Tages, eines Tages ...«, murmelte der Diakon. »Wer garantiert mir das? Weißt du, Baudolino, meine tiefste Befürchtung ist, und Gott vergebe mir diesen Zweifel, der mich zerfrisst, dass es das Reich meines Vaters gar nicht gibt. Wer hat mir von ihm erzählt? Die Eunuchen, seit ich ein kleines Kind war. Zu wem kehren die Boten zurück, die sie – sie , sage ich – zu meinem Vater schicken? Zu ihnen , den Eunuchen. Sind diese Boten wirklich aufgebrochen? Sind sie wirklich zurückgekehrt? Haben sie überhaupt jemals existiert? Ich weiß alles nur von den Eunuchen. Was, wenn alles, diese ganze Provinz, vielleicht die ganze Welt, nur die Frucht eines Komplotts der Eunuchen wäre, die sich über mich lustig machen wie über den letzten Nubier oder Skiapoden? Und wenn auch die Weißen Hunnen nicht existierten? Von allen Menschen wird ein tiefer Glaube an den Schöpfer des Himmels und der Erde und die unergründlichsten Mysterien unserer heiligen Religion erwartet, auch wenn sie unserem Verstand aufs krasseste widersprechen. Aber die Forderung, an diesen unbegreiflichen Gott zu glauben, ist unendlich viel leichter erfüllbar als die an mich gestellte Forderung, allein den Eunuchen zu glauben.«
»Nein, edler Herr, nein, mein Freund«, tröstete ihn Baudolino, »das Reich deines Vaters gibt es wirklich, ich habe es nicht nur von den Eunuchen gehört,
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