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Die historischen Romane

Die historischen Romane

Titel: Die historischen Romane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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sondern schon lange vorher von Leuten, die fest daran glaubten. Der Glaube macht, dass die Dinge wahr werden. Meine Mitbürger hatten an eine neue Stadt geglaubt, an eine, die sogar einem großen Kaiser Angst einzujagen vermochte, und diese Stadt ist entstanden, weil sie so fest an sie glaubten. Das Reich des Priesters ist wahr, weil meine Freunde und ich zwei Drittel unseres Lebens damit verbracht haben, nach ihm zu suchen.«
    »Mag sein«, sagte der Diakon, »aber auch wenn es existiert, werde ich es nie zu sehen bekommen.«
    »Genug davon!« sagte Baudolino eines Tages. »Du fürchtest, dass das Reich nicht existiert, und während du darauf wartest, es zu sehen, überlässt du dich einem allumfassenden Weltverdruss, der dich töten wird. Im Grunde schuldest du niemandem etwas, weder den Eunuchen noch dem Priester. Sie haben dich gewählt, du warst ein Säugling und konntest sie nicht wählen. Du willst ein Leben in Abenteuer und Ruhm? Wohlan, nimm eines unserer Pferde, reite nach Palästina, wo tapfere Christen gegen die Mauren kämpfen. Werde der Held, der du sein möchtest, die Burgen des Heiligen Landes sind voller Prinzessinnen, die ihr Leben für ein Lächeln von dir geben würden.«
    »Hast du jemals mein Lächeln gesehen?« erwiderte der Diakon. Mit einem Ruck riss er sich den Schleier vom Gesicht, und Baudolino erblickte eine gespenstische Maske mit roten Lippen, die faules Zahnfleisch und kariöse Zähne enthüllten. Die Gesichtshaut war runzlig und an manchen Stellen so weit geschwunden, dass man, in einem abstoßenden Rosa, das Fleisch bloßliegen sah. Die Augen glühten unter hängenden und zerfressenen Lidern hervor. Die Stirn war eine einzige Wunde. Das Haar war lang und strähnig, und ein spärlicher zweigeteilter Bart bedeckte das, was ihm vom Kinn noch geblieben war. Er streifte sich die Handschuhe ab, und zum Vorschein kamen knochendürre, mit schwarzen Knötchen übersäte Hände.
    »Das ist die Lepra, Baudolino, die Lepra, die weder Könige noch andere Machthaber dieser Erde verschont. Seit meinem zwanzigsten Lebensjahr trage ich dieses Geheimnis in mir, von dem mein Volk nichts ahnt. Ich habe die Eunuchen gebeten, Boten an meinen Vater zu schicken, damit er weiß, dass ich ihm nicht werde auf dem Thron folgen können, und sich beeilt, einen anderen Erben heranzuziehen – sollen sie ruhig sagen, ich sei gestorben, ich werde mich in einer Kolonie meiner Leidensgenossen verbergen, und niemand wird mehr etwas von mir hören. Aber die Eunuchen behaupten, mein Vater wolle, dass ich bleibe. Und das glaube ich ihnen nicht. Den Eunuchen kommt ein schwacher Diakon sehr gelegen, vielleicht werden sie, wenn ich gestorben bin, meinen einbalsamierten Leib in dieser Höhle behalten, um im Namen meines Leichnams zu regieren. Vielleicht wird, wenn der Priester gestorben ist, einer von ihnen meinen Platz einnehmen, und niemand wird sagen können, dass nicht ich es bin, denn hier hat nie jemand mein Gesicht gesehen, und im Reich hat man mich nur gesehen, als ich noch an der Mutterbrust lag. Verstehst du jetzt, Baudolino, warum ich den Tod durch Verschmachten vorziehe, ich, der ich schon bis auf die Knochen vom Tod durchdrungen bin? Ich werde nie Ritter sein, ich werde nie Liebender sein. Auch du bist soeben, du hast es gar nicht gemerkt, drei Schritte zurückgewichen. Und vielleicht hast du bemerkt, dass Praxeas mindestens fünf Schritte Abstand hält, wenn er mit mir redet. Schau her, die einzigen, die es wagen, mir nahe zu sein, sind diese beiden verschleierten Eunuchen: junge Leute wie ich, die an derselben Krankheit leiden und daher berühren können, was ich berührt habe, ohne etwas zu verlieren. Erlaube, dass ich mich wieder verhülle, vielleicht wirst du mich nicht noch einmal deines Mitgefühls oder gar deiner Freundschaft unwürdig finden.«
     
    »Ich rang nach Worten des Trostes, Kyrios Niketas, aber mir fiel nichts ein. Ich schwieg. Dann sagte ich ihm, vielleicht sei unter allen Rittern, die zum kühnen Sturm auf eine Stadt ansetzten, der wahre Held er, der sein Schicksal in Schweigen und Würde ertrug. Er dankte mir und bat mich, ihn für den Rest jenes Tages allein zu lassen. Aber von nun an war ich diesem unglücklichen Menschen herzlich zugetan, ich besuchte ihn täglich und erzählte ihm von meinen einstigen Lektüren, von den Diskussionen am Hof des Kaisers, ich beschrieb ihm die Orte, die ich gesehen hatte, von Regensburg bis Paris, von Venedig bis Byzanz, und dann Ikonion und Armenien und

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