Die historischen Romane
können wir trotz unserer Kleinheit manchmal weiter sehen als sie.«
»Was, sag mir, was können wir besser als sie?« rief Nicolas aus. »Wenn du hinuntersteigst in die Krypta der Kirche, wo der Klosterschatz aufbewahrt wird, findest du dort Reliquienschreine von so unendlich feiner Machart, dass dieses elende Ding hier, das ich erbärmlich zusammenbastle« – mit einer verächtlichen Handbewegung zeigte er auf sein Werkstück – »dagegen wie plumper Hohn erscheint!«
»Nirgendwo steht geschrieben, dass fähige Glasermeister immer nur Kirchenfenster und Reliquienschreine herstellen müssen, wenn die Meister von einst so treffliche und gewiss auch noch für Jahrhunderte dauerhafte zu machen verstanden. Sonst würde die Welt bald voller Reliquienschreine sein, und das in einer Zeit, da die Heiligen, aus denen man Reliquien gewinnt, so rar geworden sind«, lächelte William tröstend. »Auch braucht man nicht immer nur Fenster zu reparieren. Ich habe in anderen Ländern Dinge aus Glas gesehen, die an eine Welt von morgen denken lassen, in welcher das Glas nicht nur im Dienst der Verehrung Gottes und seiner Kirche stehen wird, sondern auch im Dienst der Menschen, um ihnen zu helfen, ihre Schwächen zu überwinden. Ich möchte dir gern ein Werk unserer Tage zeigen, von dem ich mich glücklich schätze, ein überaus nützliches Exemplar zu besitzen.« Mit diesen Worten griff William in seine Kutte und zog zur Verblüffung unseres wackeren Meisters seine Augengläser hervor.
Nicolas nahm das Gerät, das William ihm reichte, mit großer Neugier in beide Hände. » Oculi de vitro cum capsula! « rief er bewundernd aus. »Ich habe davon schon gehört. Ein gewisser Fra Giordano, den ich früher einmal in Pisa kannte, sagte mir damals, sie seien vor etwa zwanzig Jahren erfunden worden. Aber das ist mehr als zwanzig Jahre her.«
»Ich glaube, dass die Erfindung viel älter ist«, sagte William. »Aber die Herstellung ist sehr schwierig und verlangt erfahrene Hände. Sie kostet Zeit und Arbeit. Vor zehn Jahren wurde in Bologna ein Paar dieser vitrei ab oculis ad legendum für sechs Silbergroschen verkauft. Ich hatte damals bereits ein Paar, das mir ein großer Meister, Salvino degli Armati, vor über zehn Jahren geschenkt hatte, und ich habe diese kostbaren Gläser während der ganzen Zeit so sorgsam gehütet, als wären sie – was sie inzwischen tatsächlich geworden sind – ein Teil meines Körpers.«
»Ich hoffe, du lässt sie mich irgendwann dieser Tage einmal genauer untersuchen. Es würde mir nicht missfallen, ähnliche herzustellen«, sagte Nicolas aufgeregt.
»Gewiss«, erwiderte William. »Aber bedenke, dass die Form und Dicke der Linsen verschieden sein muss, je nachdem, an welches Auge sie sich anpassen sollen. Man muss eine ganze Reihe von Linsen direkt am Patienten ausprobieren, bevor man die richtigen für ihn gefunden hat.«
»Wahrlich ein Wunder, ein echtes Wunder!« staunte Nicolas, immer noch ganz ergriffen. »Und doch werden viele, wenn sie das sehen, von Hexerei und Teufelswerk sprechen...«
»Sicher kann man bei diesen Dingen auch von Magie sprechen«, gab William zu. »Doch es gibt zwei Arten von Magie. Die eine ist Teufelswerk und zielt darauf ab, die Menschen durch Machenschaften, von denen zu sprechen sich nicht geziemt, zu zerstören. Die andere aber ist Gottes Werk, und sie liegt immer dann vor, wenn die göttliche Weisheit sich in der menschlichen Wissenschaft ausdrückt mit dem Ziel, die Natur zu verändern und das Leben der Menschen zu verlängern. Dies ist zweifellos eine heilige Magie, der die Wissenschaftler sich mehr und mehr zuwenden sollten. Nicht nur um Neues zu entdecken, sondern auch um die vielen Geheimnisse der Natur wieder freizulegen, die Gottes Weisheit bereits den Juden und Griechen und anderen antiken Völkern offenbart hatte und die Gott auch heute noch manchen Ungläubigen offenbart (du glaubst gar nicht, wie viele Wunderdinge der Optik oder der Wissenschaft vom Sehen sich in den Schriften der Ungläubigen finden!). All diese Kenntnisse muss eine christliche Wissenschaft sich wieder aneignen und sich gewissermaßen zurückholen von den Heiden und Ungläubigen tamquam ab iniustis possessoribus.«
»Aber warum lassen dann diejenigen«, fragte Nicolas interessiert, »die bereits im Besitz dieser Wissenschaft sind, nicht das ganze Gottesvolk an ihr teilhaben?«
»Weil nicht das ganze Gottesvolk reif ist für so viele Geheimnisse«, antwortete mein Meister. »Und es ist ja
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