Die historischen Romane
hinunterstiegen, sahen sie vor dem Turm ein Hin und Her von Eunuchen, die ihr Hab und Gut auf Maultiere luden. Praxeas kam mit fahlem Gesicht auf sie zu. »Der Diakon ist tot, und du hast es gewusst«, sagte er zu Baudolino.
»Tot oder lebendig, du wärst ohnehin geflohen.«
»Wir gehen fort. In der Schlucht werden wir die Lawine auslösen, und der Weg zum Reich des Priesters wird für immer versperrt sein. Wollt ihr mitkommen? Ihr müsst euch aber an unsere Vereinbarungen halten.«
Baudolino fragte gar nicht, welche Vereinbarungen er meinte. »Was liegt mir an deinem verdammten Priester Johannes«, schrie er, »ich habe an ganz was anderes zu denken! Los, Freunde, gehen wir.«
Die anderen waren zuerst eine Weile sprachlos. Dann räumten Boron und Kyot ein, dass ihr eigentliches Ziel immer noch war, Zosimos mit dem Gradal wiederzufinden, und Zosimos war sicher noch nicht ins Reich gelangt und würde auch nie mehr dorthin gelangen. Colandrino und der Boidi sagten, mit Baudolino seien sie gekommen, mit Baudolino würden sie auch wieder gehen. Solomon bemerkte, seine zehn Stämme könnten sowohl jenseits wie diesseits jener Berge sein und daher sei für ihn jede Richtung gut. Der Poet sagte nichts, er schien jeden Willen verloren zu haben, und jemand musste sein Pferd am Zügel nehmen, um ihn mit fortzuziehen.
Als sie gerade aufbrechen wollten, sah Baudolino einen der beiden verschleierten Getreuen des Diakons auf sich zukommen. Er trug eine Schatulle. »Hier ist das Laken mit seinen Zügen«, sagte er. »Er wollte, dass du es bekommst. Nutze es gut.«
»Flieht ihr auch?«
Der Verschleierte schüttelte den Kopf. »Ob hier oder drüben, wenn es denn ein Drüben gibt, für uns ist das gleich. Uns erwartet das Los unseres Herrn. Wir werden hierbleiben und die Hunnen anstecken.«
Kaum waren sie aus der Stadt, bot sich ihnen ein unheilverkündender Anblick. Unter den blauen Hügeln flackerten Flammen. Anscheinend hatte ein Teil der Hunnen am Morgen begonnen, um das Schlachtfeld herumzureiten, und war nun, einige Stunden später, schon am See angelangt.
»Schnell«, rief Baudolino verzweifelt, »alle dorthin, im Galopp!« Die anderen verstanden nicht. »Wieso dorthin, wenn dort schon diese Kerle sind?« fragte der Boidi. »Eher hier lang, vielleicht kommen wir bloß noch im Süden durch.«
»Macht, was ihr wollt, ich will dorthin!« schrie Baudolino und preschte los.
»Er ist verrückt geworden, wir müssen ihm folgen, damit er sich nichts antut«, beschwor Colandrino die anderen.
Doch Baudolino hatte sie bereits weit hinter sich gelassen und ritt, auf den Lippen den Namen Hypatias, dem sicheren Tod entgegen.
Nach einer halben Stunde wilden Galopps hielt er an, als er eine Gestalt sehr schnell auf sich zukommen sah. Es war Gavagai.
»Du ganz ruhig sein«, sagte er. »Ich sie gesehen. Sie jetzt in Sicherheit.« Die gute Nachricht verwandelte sich jedoch rasch in eine Quelle der Verzweiflung, denn dies war es, was Gavagai zu berichten hatte: Die Hypatien waren rechtzeitig vor der Ankunft der Hunnen gewarnt worden, und zwar von den Satyrn, die von ihren Höhen herabgestiegen waren und sie zusammengeholt hatten. Als Gavagai eintraf, waren sie gerade dabei, sie fortzuführen, hinauf in die Berge, wo nur sie sich bewegen konnten und die Hunnen nie hingelangen würden. Hypatia hatte bis zuletzt gewartet, von ihren Gefährtinnen schon am Arm gezogen, um Nachricht von Baudolino zu hören, und sie hatte nicht mitgehen wollen, bevor sie nicht wusste, wie es ihm ergangen war. Als sie die Botschaft von Gavagai hörte, beruhigte sie sich, und unter Tränen lächelnd sagte sie ihm, er solle ihn von ihr grüßen, und zitternd trug sie ihm auf, ihm auszurichten, er solle fliehen, denn sein Leben sei in Gefahr, und schluchzend hinterließ sie ihm ihre letzte Botschaft: Sie liebe ihn, und sie würden sich niemals wiedersehen.
Baudolino fuhr ihn an, er sei wohl verrückt geworden, er könne doch Hypatia nicht in die Berge gehen lassen, er werde sie holen und mitnehmen. Aber Gavagai erwiderte, dafür sei es zu spät, denn bevor er dort hinkommen werde, wo übrigens inzwischen die Hunnen uneingeschränkt herrschten, würden die Hypatien schon wer weiß wo sein. Dann, seinen Respekt vor einem der Magier überwindend, legte er Baudolino eine Hand auf den Arm und wiederholte ihm Hypatias letzte Botschaft: Sie würde sogar auf ihn gewartet haben, aber ihre erste Pflicht sei es, ihr gemeinsames Geschöpf zu beschützen. »Sie gesagt:
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