Die historischen Romane
gebissen. Er hatte gerade noch genug Atem, mir zum Abschied zu sagen, ich solle die Erinnerung an seine geliebte Schwester und meine geliebte Gattin treu bewahren, damit sie wenigstens in meinem Gedächtnis weiterlebe. Ich hatte Colandrina vergessen und fühlte mich ein weiteres Mal als Ehebrecher und Verräter, an ihr und an ihm.«
»Und dann?«
»Dann wird alles dunkel in meiner Erinnerung. Kyrios Niketas, aus Pndapetzim fortgegangen sind wir nach meinen Berechnungen im Sommer 1197. Hier in Konstantinopel angekommen sind wir im Januar dieses Jahres. Dazwischen liegen also sechseinhalb dunkle Jahre, dunkel für meinen Geist und vielleicht auch für die Welt.«
»Sechs Jahre seid ihr durch Wüsten geirrt?«
»Ein Jahr, vielleicht zwei, wer achtete noch auf die Zeit? Nach Colandrinos Tod, vielleicht Monate später, fanden wir uns erneut am Fuße eines Gebirges, bei dessen Anblick wir nicht wussten, wie wir es übersteigen sollten. Von den zwölf zu Beginn der Reise waren nur noch sechs übrig, sechs Menschen und ein Skiapode. Zerlumpt, abgemagert und sonnenverbrannt, hatten wir nichts als unsere Waffen und unsere Reisesäcke. Wir dachten schon, wir wären vielleicht ans Ende unserer Reise gelangt und es sei uns beschieden, dort zu sterben. Da sahen wir auf einmal eine Reiterschar auf uns zukommen. Es waren prächtig gekleidete Reiter, sie hatten schimmernde Waffen, Menschenleiber und Hundeköpfe.«
»Es waren Kynokephalen. Also gibt es sie wirklich!«
»So wahr es Gott gibt. Sie begrüßten uns mit bellenden Lauten, wir verstanden nichts, einer, der offenbar ihr Anführer war, lächelte – vielleicht war es ein Lächeln, vielleicht auch ein Knurren, das seine spitzen Hundezähne enthüllte –, bellte einen Befehl, und die anderen banden uns so aneinander, dass wir im Gänsemarsch gehen mussten. Sie führten uns auf einem verborgenen Weg durchs Gebirge; nach einigen Stunden Wanderung gelangten wir in ein Tal, in dessen Mitte sich ein steiler Felsen erhob, gekrönt von einer mächtigen Burg, über welcher Raubvögel kreisten, die auch aus der Ferne noch riesig wirkten. Mir fiel die Beschreibung ein, die Abdul mir einst gegeben hatte, und ich erkannte die Felsenburg Aloadins.«
Sie war es. Die Hundsköpfigen ließen ihre Gefangenen vielfach gewundene, in den Felsen gehauene Stufen zu der uneinnehmbaren Festung hinaufsteigen und führten sie ins Innere der Burg, die ihnen fast so groß wie eine Stadt vorkam und in der sie zwischen Türmen und Zinnen hängende Gärten und überdachte Gänge mit vergitterten Fenstern gewahrten. Sie wurden von anderen, diesmal mit Peitschen bewaffneten Hundsköpfigen in Empfang genommen. Als sie durch einen Korridor gingen, sah Baudolino im Vorbeigehen durch ein Fenster in einen kahlen Hof zwischen hohen Mauern, in dem zahlreiche junge Männer angekettet am Boden lagen, und er erinnerte sich, wie Aloadin seine Häscher zum Morden erzog, indem er sie mit grünem Honig verhexte. In einen prächtigen Saal geführt, erblickten sie einen auf gestickten Kissen sitzenden Greis, der mindestens hundert Jahre alt sein musste. Er hatte einen weißen Bart, schwarze Augenbrauen und einen finsteren Blick. Schon gefürchtet und mächtig, als er vor fast einem halben Jahrhundert Abdul entführt hatte, war Aloadin immer noch da, um das Regiment über seine Sklaven zu führen.
Er musterte die Neuankömmlinge mit einem verächtlichen Blick, offenbar sah er gleich, dass diese Unglücklichen nicht für seine Mördertruppe taugten. Er würdigte sie keines Wortes, sondern gab nur einem seiner Diener einen gelangweilten Wink, als wollte er sagen: Macht mit ihnen, was ihr wollt. Seine Neugier erwachte erst, als er hinter ihnen den Skiapoden erblickte. Er ließ ihn vortreten, forderte ihn durch Gesten auf, den Fuß über den Kopf zu heben, und lachte. Die sechs Männer wurden abgeführt, und Gavagai blieb bei dem Alten.
So begann die lange Gefangenschaft von Baudolino, Boron, Kyot, Rabbi Solomon, Boidi und dem Poeten. Immerfort mit einer Eisenkette am Fuß, die in einer schweren Steinkugel endete, mussten sie Sklavenarbeit verrichten, manchmal die steinernen Böden und Wände schrubben, manchmal die Mühlsteine der Ölmühlen drehen, manchmal auch Widderviertel zu den Vögeln Roch bringen.
»Das waren«, erklärte Baudolino, »riesige Raubvögel, groß wie zehn Adler zusammen, mit einem scharfen Krummschnabel, mit dem sie in kürzester Zeit einen Ochsen bis auf die Knochen vertilgen konnten. An
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