Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die historischen Romane

Die historischen Romane

Titel: Die historischen Romane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
Vom Netzwerk:
den Füßen hatten sie Krallen, die den Rammspornen von Schlachtschiffen glichen. Sie wurden in einem großen Käfig hoch oben auf einem Turm gehalten, in dem sie auf Stangen saßen, immer voller Unruhe und bereit, jeden anzugreifen, der ihnen zu nahe kam – bis auf einen Eunuchen, der ihre Sprache zu sprechen schien und sich unbehelligt zwischen ihnen bewegte, als wäre er zwischen den Hühnern in seinem Hühnerhof. Er war auch der einzige, der sie als Aloadins Boten aussenden konnte: Er legte einem von ihnen robuste Ledergurte um Hals und Rücken, zog sie unter den Flügeln durch und befestigte daran einen Korb oder einen anderen Behälter, dann öffnete er ein Gitter, gab ein Kommando, und der so aufgezäumte Vogel – nur dieser eine – flog davon und verschwand am Himmel. Wir sahen auch manchmal, wie sie zurückkamen: Der Eunuch ließ sie herein und befreite sie von einem Beutelsack oder einem Metallzylinder, der offensichtlich eine Botschaft für den Burgherrn enthielt.«
     
    Andere Male verbrachten die Gefangenen Tage und Tage mit Müßiggang, denn es gab nichts zu tun. Manchmal wurden sie beauftragt, demjenigen Eunuchen zu helfen, der den in Ketten liegenden jungen Männern den grünen Honig servierte, und dann erschraken sie, wenn sie die Gesichter sahen, entstellt von ihrem verzehrenden Traum. Aber wenn nicht ein Traum, so doch ein subtiles Sehnen verzehrte auch unsere Gefangenen, die sich die Zeit damit vertrieben, einander unentwegt von ihren Erlebnissen zu erzählen. Sie erinnerten sich an Paris, an Alexandria, an den fröhlichen Markt von Kalliupolis, an den heiteren Aufenthalt bei den Gymnosophisten. Sie sprachen vom Brief des Priesters Johannes, und der Poet, der sich jeden Tag mehr verfinsterte, schien die Worte des Diakons zu wiederholen, als hätte er sie mit eigenen Ohren gehört: »Der Zweifel, der mich zerfrisst, ist, dass es das Reich gar nicht gibt. Wer hat uns in Pndapetzim von ihm erzählt? Die Eunuchen. Zu wem sind die Boten zurückgekehrt, die sie zum Priester schickten? Zu ihnen , den Eunuchen. Waren diese Boten wirklich aufgebrochen? Waren sie wirklich zurückgekehrt? Der Diakon hatte seinen Vater niemals gesehen. Alles, was wir dort erfahren haben, haben wir von den Eunuchen erfahren. Vielleicht war alles nur ein Komplott der Eunuchen, die sich über den Diakon und uns lustig machten wie über den letzten Nubier oder Skiapoden. Manchmal frage ich mich sogar, ob die Weißen Hunnen überhaupt existiert haben ...« Baudolino sagte, er solle doch an ihre in der Schlacht gefallenen Kameraden denken, aber der Poet schüttelte nur den Kopf. Um sich nicht einzugestehen, dass er besiegt worden war, glaubte er lieber, einer raffinierten Täuschung zum Opfer gefallen zu sein.
    Immer wieder kamen sie auch auf den Tag zurück, an dem Friedrich gestorben war, und jedes Mal erfanden sie eine neue Erklärung für diesen unerklärlichen Tod. Zosimos war es gewesen, klar. Nein, Zosimos hatte den Gradal gestohlen, aber erst hinterher. Jemand anders musste vorher tätig geworden sein, in der Hoffnung, den Gradal an sich zu bringen. Ardzrouni? Wer konnte das wissen? Einer ihrer gefallenen Kameraden? Was für ein grässlicher Gedanke. Einer von ihnen? Ja Herr im Himmel, rief Baudolino, müssen wir denn in all unserem Unglück auch noch die Qualen der gegenseitigen Verdächtigung erleiden?
     
    »Solange wir erwartungsvoll nach dem Reich des Priesters suchten, waren uns nie solche Zweifel gekommen. Jeder half dem anderen im Geiste der Freundschaft. Es war die Gefangenschaft, die uns unleidlich machte, wir konnten einander nicht mehr in die Augen sehen, und jahrelang haben wir uns gegenseitig gehasst. Ich lebte in mich zurückgezogen. Ich dachte an Hypatia, aber es gelang mir nicht, mich an ihr Gesicht zu erinnern, ich erinnerte mich nur an die Freude, die sie mir gab. Nachts kam es vor, dass ich die Hände unruhig auf meinem Schamhaar bewegte und dabei träumte, ihr nach Moschus duftendes Vlies zu berühren. Ich konnte mich erregen, denn während der Geist sich in Träumereien verlor, erholte sich unser Körper allmählich von den Auswirkungen unserer Irrfahrt. Wir wurden nicht schlecht ernährt dort oben, wir bekamen zweimal am Tag reichlich zu essen. Vielleicht war das die Art, wie Aloadin uns ruhig hielt, nachdem er uns nicht an den Mysterien des grünen Honigs teilhaben lassen wollte. Tatsächlich kamen wir wieder zu Kräften, aber trotz der harten Arbeit, die wir verrichten mussten, wurden wir dick.

Weitere Kostenlose Bücher