Die historischen Romane
ihrer Arbeit. In dem großen Saal herrschte Stille, aber es war nicht die Stille, die dem emsig tätigen Frieden der Herzen entströmt. Berengar, der kurz zuvor ins Skriptorium gekommen war, empfing uns mit einem ängstlichen Blick. Auch die anderen Mönche hoben die Köpfe, als wir eintraten. Sie wussten, dass wir gekommen waren, um etwas über Venantius herauszufinden, und die Richtung ihrer Blicke lenkte unsere Aufmerksamkeit auf einen leeren Platz unter einem der Fenster, die zu dem achteckigen Innenhof hinausgingen.
Obwohl es ein ziemlich kühler Morgen war, herrschte eine milde Temperatur im Skriptorium. Es war nicht zufällig über der Küche angelegt worden, aus der genug Wärme heraufdrang, zumal die Rauchabzüge der beiden unteren Feuerstätten durch die Mittelpfeiler der beiden Wendeltreppen im West- und Südturm gingen. Der Nordturm am oberen Ende des großen Saales barg keine Treppe, aber dafür einen breiten Kamin, der eine freundliche Wärme verbreitete. Außerdem war der Boden mit einem dicken Strohteppich belegt, der unsere Schritte fast unhörbar machte. Der kühlste Winkel des ganzen Saales war der vor dem Ostturm, durch den wir vom Refektorium aus hinaufgestiegen waren, und in der Tat bemerkte ich gleich, dass die Mönche es offenbar vermieden, sich an einen der hier aufgestellten Tische zu setzen, solange genügend andere verfügbar waren. Als ich später feststellte, dass die große Wendeltreppe im Ostturm als einzige nicht nur bis zum Skriptorium führte, sondern noch weiter hinauf zur Bibliothek, fragte ich mich, ob möglicherweise die Heizung des Saales bewusst und in voller Absicht so angelegt worden war, um die Mönche in raffiniertem Kalkül davon abzuhalten, sich in jener Ecke herumzutreiben, so dass der Bibliothekar den Zugang zum Oberstock leichter bewachen konnte. Aber das war vielleicht ein übertriebener Verdacht, und ich wurde allmählich zum albernen Nachäffer meines Lehrers, denn gleich darauf fiel mir ein, dass ein solches Kalkül im Sommer ja wohl kaum aufgehen konnte – es sei denn (so sagte ich mir), dass besagte Ecke im Sommer womöglich die sonnigste war und folglich erneut die am meisten gemiedene.
Der Tisch des Venantius stand direkt gegenüber dem großen Kamin und war vermutlich einer der erstrebenswertesten. Ich hatte damals erst wenige Jahre meines Lebens in einem Skriptorium verbracht, aber viele sollte ich später darin verbringen, und daher weiß ich sehr wohl um die Leiden eines Kopisten, Rubrikators oder Forschers, der lange Winterstunden an seinem Tisch sitzen muss mit klammen Fingern, denen die Feder entgleitet (wenn schon bei normaler Temperatur nach sechs Stunden Arbeit der schreckliche Schreibkrampf droht und einen der Daumen schmerzt, als hätte man sich mit dem Hammer darauf gehauen!). Das erklärt auch, weshalb wir so oft an den Rändern der Handschriften kurze Bemerkungen finden, die der Schreiber als Zeugnis seines Duldens (oder seiner Ungeduld) hinterlassen hat. Bemerkungen wie etwa »Gott sei Dank, bald wird es dunkel!« oder »Ach, hätte ich nur ein schönes Glas Wein!« oder auch »Kalt ist es heute, das Licht ist schlecht, dieses Vellum ist filzig: irgendwie geht es nicht!« Mit Recht sagt ein altes Sprichwort: Drei Finger halten die Feder, aber der ganze Körper schafft mit. Und leidet.
Doch ich sprach vom Tisch des Venantius. Er war etwas kleiner als die anderen, wie übrigens alle Tische unter den Fenstern zum Innenhof, an denen die Forscher saßen, während die breiteren Tische unter den Außenfenstern den Miniatoren und Kopisten vorbehalten waren. Allerdings arbeitete auch Venantius mit einem Lesepult, vermutlich weil er Manuskripte benutzte, die der Abtei leihweise überlassen waren, um kopiert zu werden. Unter dem Tisch befand sich ein flaches Regal, auf welchem lose Bögen säuberlich übereinandergeschichtet lagen, und da sie alle lateinisch beschrieben waren, nahm ich an, dass es sich um Venantius’ letzte Übersetzungen handelte. Die Bögen waren mit einer raschen, schwer lesbaren Schrift beschrieben, es waren keine fertigen Buchseiten, sondern Vorlagen, die später einem Kopisten und einem Miniaturenmaler anvertraut werden sollten. Neben dem Stapel fanden wir ein paar griechische Bücher. Ein weiteres griechisches Buch stand aufgeschlagen auf dem Lesepult, offensichtlich das Werk, an welchem Venantius in den letzten Tagen seine Übersetzerkünste geübt hatte. Ich konnte damals noch kein Griechisch, aber William las den Titel und
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