Die historischen Romane
sagte, es sei von einem gewissen Lukianos und handle von einem Manne, der in einen Esel verwandelt worden war. Das erinnerte mich an eine ähnliche Fabel des Apuleius, von deren Lektüre man uns Novizen in Melk nachdrücklich abzuraten pflegte.
»Wieso machte Venantius gerade diese Übersetzung?« fragte William den Bibliothekarsgehilfen, der zu uns getreten war.
»Sie ist vom Herrn der Stadt Mailand bei uns bestellt worden, die Abtei erhält dafür als Gegenleistung ein Vorkaufsrecht auf die Weinproduktion einiger Güter drüben im Osten«, erklärte Berengar und deutete mit der Hand in die Ferne. Dann fügte er rasch hinzu: »Nicht dass die Abtei sich zu käuflicher Arbeit für weltliche Herren feilböte! Aber der Auftraggeber hat sich dafür verwandt, dass diese kostbare Handschrift uns leihweise überlassen wurde. Sie gehört nämlich dem Dogen von Venedig, der sie vom Kaiser von Byzanz erhielt, und sobald Venantius sie nicht mehr brauchen würde, wollten wir zwei Kopien davon machen, eine für den Auftraggeber der Übersetzung und eine für unsere Bibliothek.«
»Die es demnach also nicht verschmäht, auch heidnische Fabeln zu sammeln«, sagte William.
»Die Bibliothek ist Zeugnis der Wahrheit wie des Irrtums«, erklang in diesem Moment eine Stimme in unserem Rücken. Es war Jorge, und abermals war ich überrascht (ich sollte es in den nächsten Tagen noch viel häufiger sein) von der lautlosen Art, wie dieser blinde Greis plötzlich aus dem Nichts auftauchte, als wäre er unsichtbar für unsere Augen, nicht aber wir für die seinen. Auch fragte ich mich verwundert, was wohl ein Blinder im Skriptorium tun mochte. Später sollte ich allerdings merken, dass Jorge überall in der Abtei so gut wie omnipräsent war. Oft saß er im Skriptorium auf einem Lehnstuhl nahe dem Kamin und schien alles, was in dem großen Saal vorging, aufs Genaueste zu verfolgen. Einmal hörte ich ihn von seinem Platz aus mit lauter Stimme fragen: »Wer geht da hinauf?« – als Malachias, die Schritte gedämpft durch den Strohteppich, gerade am anderen Ende des Saales bei der Treppe zur Bibliothek angelangt war. Die Mönche hatten allesamt große Hochachtung vor dem Alten und wandten sich häufig an ihn, um sich eine schwer verständliche Stelle erklären zu lassen, eine Scholie mit ihm zu besprechen oder ihn um Rat zu fragen wegen der richtigen Darstellung eines mythischen Tieres oder eines Heiligen. Er pflegte dann mit seinen erloschenen Augen ins Leere zu starren, als lese er Buchseiten, die er alle genauestens im Gedächtnis hatte, und erklärte etwa, dass die falschen Propheten gekleidet seien wie Bischöfe, aber Kröten kämen aus ihrem Mund, oder welche Steine die Mauern des himmlischen Jerusalem schmückten, oder dass die Arimaspen auf den Landkarten nahe dem Land Aithiopia dargestellt werden müssten – aber man solle sie nicht zu verführerisch in ihrer Scheußlichkeit darstellen, es genüge, sie emblematisch anzudeuten, so dass sie erkennbar seien, aber nicht begehrenswert oder abstoßend bis zur Lächerlichkeit.
Einmal hörte ich ihn einem Scholiasten raten, wie er die Recapitulatio in den Texten des Tyconius dergestalt interpretieren könne, dass der Geist des heiligen Augustinus gewahrt bleibe und die donatistische Häresie vermieden werde. Ein andermal hörte ich ihn erklären, wie man beim Kommentieren den Unterschied zwischen Häretikern und Schismatikern klar herausstellt. Auch hörte ich ihn dabei einem verblüfften Studiosus sagen, welches Buch er im Bibliothekskatalog hätte suchen müssen und auf welcher Seite er es gefunden hätte – nicht ohne dem also Beratenen zu versichern, dass der Bibliothekar es ihm gewiss aushändigen würde, da es sich um ein von Gott inspiriertes Werk handele. Dann wiederum hörte ich ihn erklären, dass man ein bestimmtes Buch gar nicht erst zu suchen brauche; es sei zwar im Katalog aufgeführt, aber bereits vor fünfzig Jahren so gründlich von Mäusen zerfressen worden, dass es nun bei der geringsten Berührung zu Staub zerfallen werde... Kurzum, Jorge war das personifizierte Gedächtnis der Bibliothek und die Seele des Skriptoriums. Von Zeit zu Zeit pflegte er die Mönche, wenn er sie miteinander schwatzen hörte, streng zu ermahnen: »Sputet euch, Zeugnis der Wahrheit abzulegen, die Zeit ist nahe!« – und alle wussten dann, dass er die baldige Ankunft des Antichrist meinte.
»Die Bibliothek ist Zeugnis der Wahrheit wie des Irrtums«, sagte er also nun.
»Zweifellos haben
Weitere Kostenlose Bücher