Die Hitze der Hölle
Die Schatten wurden länger, und an einigen Stellen verschwanden die letzten Sonnenstrahlen ganz hinter den hohen Hecken. Corbett schleppte sich weiter. Er bedauerte es, daß er nicht bis zum nächsten Morgen gewartet hatte. Plötzlich hörte er das Knirschen von Kies. Er drehte sich ruckartig um. Folgte ihm jemand? Oder kam das Geräusch von einem Vogel oder einem anderen Tier jenseits der Hecke? Er stand eine Weile da und wartete, ob er noch etwas hören würde, dann ging er beruhigt weiter. Schließlich führte ihn das Seil um eine letzte Biegung, und er befand sich in der Mitte des Irrgartens. Einige Stufen führten zu einem großen Kruzifix aus Stein hinauf. Auf diesen mußte Reverchien gekniet haben. Die Steine und die schweren Kandelaber aus Eisen waren gesprungen und geschwärzt. Corbett schaute in das aus Stein gehauene Antlitz seines Erlösers.
»Was ist passiert?« fragte er. »Wie kann ein alter Soldat, der seine Gebete spricht, einfach so verbrennen? Das ist wirklich rätselhaft.«
Corbett betrachtete den Fleck, auf dem das Feuer gewütet hatte. Er sah nicht, was das Inferno verursacht hatte. Die Kerzen waren geschmolzen, nur noch einige Streifen Wachs waren vorhanden. Sie hätten Reverchien vielleicht versengen oder auch seine Kleidung entzünden können. Es war jedoch undenkbar, daß sie ihn in eine lebende Fackel verwandelt hatten. Corbett setzte sich auf eine Rasenbank und versuchte sich die Situation vorzustellen. Reverchien mußte denselben Pfad wie er entlanggekommen sein. Er hatte seine Gebete gesprochen und seine Perlen in der Hand. Es war vermutlich hell genug gewesen, daß er jede weitere Person in der Mitte des Irrgartens gesehen hätte. Reverchien war schließlich, obschon bereits alt, Soldat gewesen. Er hatte ein gutes und geschultes Gehör. Er hätte gewußt, wenn ihm jemand durch den Irrgarten gefolgt wäre. Wenn der Mörder einer der Kommandanten des Templerordens gewesen war, einer der fünf, die er im Ratssaal getroffen hatte, dann hätte er auch gar nicht dort sein können, als Reverchien gestorben war. Corbett schaute erneut auf den großen Brandfleck.
»Was wäre aber«, murmelte er, »wenn es sich um mehrere Täter gehandelt hätte? Wenn es hier in Framlingham auch eine Verschwörung gäbe? Wenn jemand vor Sir Guido in den Irrgarten gekommen wäre?«
Doch in dem Fall hätte der Mörder das Labyrinth auch wieder verlassen müssen, und dabei wäre er entdeckt worden.
Corbett starrte in den Himmel. Da hörte er wieder das Knirschen eines Stiefels hinter der Ligusterhecke, dann ein Geräusch, als würde eine Tür geöffnet. Er warf sich sofort zu Boden. Ein langer Pfeil aus Eibenholz bohrte sich in das Kruzifix. Corbett suchte hinter diesem Deckung und zog seinen Dolch. Wieder Knirschen auf Kies. Ein weiterer Pfeil schlug in die Hecke hinter ihm ein. Corbett wartete den dritten Pfeil nicht mehr ab, sondern rannte zu dem Pfad aus dem Irrgarten zurück und zu dem Seil. Er floh und hielt dabei seine Augen auf das Seil geheftet, das sich durch den Irrgarten schlängelte. Hinter sich konnte Corbett die leisen Sohlen seines Verfolgers hören. Er kam um eine Ecke, und das Seil nahm plötzlich ein Ende. Er blieb stehen und rang nach Luft. Sollte er sich nach rechts oder links wenden? Er versuchte die Hecke zu erklimmen, aber die Äste waren spitz und stachlig und zerschnitten ihm die Hände. Seine Füße fanden außerdem keinen Halt. Er kniete sich wieder hin, atmete tief durch und versuchte zur Ruhe zu kommen. Er erinnerte sich daran, wie weit er gerannt war, und rechnete schnell aus, daß er sich ganz in der Nähe des Eingangs befinden mußte. Wenn er jedoch den falschen Weg einschlug, würde er sich verlaufen, säße in der Falle und würde ein erstklassiges Ziel für den Meuchelmörder abgeben. Er wartete eine Weile und lauschte, hörte jedoch nur das Krächzen der Krähen und ein gelegentliches Rascheln, wenn ein Vogel aus einem der Nester in der Hecke aufflog.
Schließlich war Corbett gefaßt genug, um sich zu bewegen. Er zog seinen Umhang aus und schnitt Streifen von ihm ab, die er um die Äste band.
»Dann weiß ich zumindest, wann ich mich im Kreis bewege«, murmelte er.
Er kroch auf allen vieren und versuchte sich zu erinnern, wie er den Irrgarten betreten hatte.
»Ich bin immer nach links gegangen«, flüsterte er, »immer nach links.«
Er wählte den Pfad zu seiner Rechten und kroch weiter. Ab und zu verlor er die Orientierung und stieß hinter einer Biegung auf einen
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