Die Hitzkammer
dass hier die sorgende Hand einer Frau fehlte.
Gesseler wirkte weit weniger auffällig. Er lag im Bett, klein und unscheinbar, fast etwas Rührendes ausstrahlend. Sein Gesicht war faltig, sein Alter schwer zu schätzen; vielleicht zählte er fünfzig Jahre. Der Gott Adonis, dachte Lapidius unwillkürlich, hat es nicht gut mit diesem Mann gemeint. Laut sagte er: »Gestattet, dass ich mich vorstelle: Lapidius ist mein Name. Ich hatte die Ehre, Euch in der Folterkammer zu vertreten.«
»Ich hörte davon, Magister.« Gesseler hatte eine überraschend angenehme Stimme. »Ich bin Euch sehr verbunden.«
»Ich hoffe, es geht Euch besser? Es hat den Anschein, dass niemand sich um Euer Wohlergehen kümmert.«
»Ich bin ein Eigenbrötler.« Ein Lächeln huschte über die Falten in Gesselers Gesicht. »Aber danke für die Nachfrage, ja, es geht mir ein wenig besser.«
Lapidius fiel auf, dass der Medicus ungewöhnlich langsam sprach, so, als wolle er jedem Wort eine besondere Bedeutung beimessen. Seine Augen unterstrichen seine Worte. Es waren Augen voller Leben.
Als hätte Gesseler Lapidius’ Gedanken erraten, fuhr er fort: »Die Augen sind der Teil meines Körpers, der noch am besten funktioniert. Mit den anderen Partien ist es nicht weit her, wie meine Fallsucht beweist. Sie zwang mich wieder einmal nieder, just zu dem Zeitpunkt, als ich gebraucht wurde.«
»Ich habe schon viel von dieser Krankheit gehört«, sagte Lapidius. »Wie äußert sie sich bei Euch?«
Gesseler winkte ab. »Wie bei jedem anderen Fallsüchtigen auch. Als Arzt mache ich da keine Ausnahme. Erbrechen, Krämpfe, Bewusstlosigkeit. Wenn ich es überstanden habe, manchmal erst nach Stunden, fühle ich mich unendlich matt und reizbar. Am liebsten bleibe ich dann für ein paar Tage im Bett.«
»Ich verstehe. Welche Medikamente verordnet Ihr Euch?«
»Keine.« Der Stadtmedicus winkte abermals ab. »Denn nichts kann mir helfen.«
»Nanu? Ihr nehmt auch keine Brompräparate?«
»Nichts. Gar nichts.«
Lapidius lachte. »Ein Beißholz aber werdet Ihr doch haben, um es bei einem Anfall zwischen die Zähne zu schieben?«
Gesseler versuchte einen Scherz: »Ich verbeiße mich lieber in meine Forschungen, denen ich j ede freie Stunde widme. Ich will Hippokrates’ These endgültig widerlegen, welche besagt, dass der männliche Same von den Rückenwirbeln in die Nieren strömt und von dort in die Hoden. Ein Irrweg, im wahrsten Sinne des Wortes.«
»Aha, nun ja.« Lapidius’ Interesse für derlei Fragen war begrenzt. Es gab zwar Überschneidungen zwischen der Medizin und der Alchemie, und soweit sie seine Arbeit betrafen, hatte er sich mit ihnen beschäftigt, aber alles, was darüber hinausging, kümmerte ihn wenig. Er wechselte das Thema. »Seid Ihr sicher, dass Ihr keine Hilfe braucht? Ich könnte Euch meine Magd vorbeischicken.«
Der Medicus schüttelte den Kopf. »Nein, nein, macht Euch keine Sorgen um einen alten Mann. Ruhe ist alles, was ich brauche. Ruhe …« Er schloss die Augen und drehte den Kopf leicht zur Seite.
Lapidius verstand. »Dann will ich Euch nicht länger stören, ich wünsche Euch gute Besserung«, sagte er und schlüpfte rasch aus der Krankenstube.
Als er sich geraume Zeit später seinem Haus näherte, hörte er schon von weitem laute Schreie aus dem Oberstock. Was war da los? Er unterschied männliche und weibliche Stimmen, konnte aber nichts verstehen. Voll dunkler Vorahnungen hastete er durch die Tür und die Treppe hinauf. Das Erste, was er sah, war Gorms breiter Rücken. Er drängte ihn beiseite und erblickte Tauflieb und Marthe und – Freyja. Sie stand neben der Abseite, ihre Blöße mit einem Stück Sack bedeckend, und rief aufs Höchste erregt: »Ich lass mich nicht wegschließen wie ein Hund! Dass ihrs nur wisst! Ich will meine Kleider, meine Kleider will ich! Sofort!«
Marthe hing an ihr wie eine Klette. »Nu beruhich dich doch, Kindchen, beruhich dich! Wenns der Herr gesacht hat, hats gewisslich seine Richtigkeit mitm Schloss.«
»Das ist mir gleich! Verschwindet! Alle! Sofort! Ohhh …« Freyja hatte Lapidius bemerkt.
Marthe seufzte: »Der Herr is da. Gott sei gelobt un gepriesen!«
Tauflieb ging in die Hocke, um eine letzte Schraube festzuziehen. »Die Frau spielt verrückt«, knurrte er. »Wir haben nur unsere Arbeit gemacht, mehr nicht. Zuerst haben wir sie gar nicht bemerkt in der Abseite, so dunkel wies da drinnen ist, stimmts, Gorm?«
Der Hilfsmann schien die Worte seines Meisters nicht gehört zu haben,
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