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Die Hitzkammer

Die Hitzkammer

Titel: Die Hitzkammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Schauer über den Rücken. So wollte sie nicht sterben. So nicht! Aber würde sie wirklich sterben müssen, wenn sie die Kur nicht durchhielt? Schon jetzt fühlte sie sich deutlich schlechter als vor der Behandlung. Schlaff und schwer. Und der Kopf dröhnte ihr, als wollte er zerspringen. Was konnte an einer Kur gut sein, bei der es einem schlechter ging als vorher?
    Vorsichtig drehte sie sich auf die andere Seite, denn sie spürte erste Druckstellen auf der Haut. Ein Schweißausbruch am ganzen Körper war die Folge. Es war heiß in der Hitzkammer. Und eng, so eng, dass sie nur mit angelegten Armen liegen konnte. Und dunkel. Sie hob den Kopf, um durch das von Meister Tauflieb geschaffene Türloch zu spähen. Sie wollte wissen, ob der Tag schon angebrochen war.
    Und dann sah sie die Spinne, direkt über ihren Augen.
    Früh am Morgen saß Lapidius in seinem Lieblingsstuhl und ließ den Blick über sein Laborgerät schweifen. In dem halben Jahr seit Erwerb des Hauses hatte er einige schöne Stücke zusätzlich erstehen können. Unter anderen drei Albarellos aus Italien, tönerne Gefäße mit ebenmäßiger, weiß deckender Zinnglasur. Dazu die kunstvoll geschnitzte Allegorie der Alchemie über der Tür – ein Meisterwerk, das eine Figur zeigte, die zwei Bücher in der Hand hielt: eines die geheime Wissenschaft darstellend, das andere die öffentliche. Vor der Figur ragte eine Leiter auf, als Sinnbild der Geduld, die erforderlich war, um Stufe für Stufe das Große Werk vollenden zu können. Lapidius unterdrückte ein Gähnen und korrigierte in seinem Büchlein die Eintragung Montag, 11. in Donnerstag, 14.
    Drei Tage war er nun schon nicht zum Experimentieren gekommen, drei lange Tage, denn am gestrigen Abend war er über der Arbeit eingeschlafen. Doch heute sollte das anders werden. Freyja Säckler lag oben in der Hitzkammer, und sie würde, so Gott wollte, auch dort liegen bleiben. Er konnte sich also endlich seiner Variatio VI zuwenden. Anschließend, gegen Nachmittag, wollte er den beiden seltsamen Zeuginnen auf den Zahn fühlen. Er wurde den Gedanken nicht los, dass mit ihnen etwas faul war.
    Da hörte er den Schrei. Er war lang gezogen, spitz, gellend. Und er klang so, als käme er aus einem hohlen Baumstamm. Lapidius sprang auf und blickte sich fragend um. Dann wusste er es: Der Schrei war aus dem Sprechschacht neben seinem Bett gekommen. Das musste Freyja gewesen sein. Was war mit ihr passiert? »Warte, Freyja!«, rief er. »Warte, ich komme!«
    Mit rudernden Armen stürmte er die Stufen zum Oberstock hinauf, wo mittlerweile heftig von innen gegen die Klappe geschlagen wurde. »Was ist denn los, um Himmels willen?«
    Freyjas schreckgeweitete Augen erschienen hinter der Türöffnung. »Eine Spinne! Sie war fast auf mir drauf.«
    »Eine Spinne? Gott sei Dank! Ich dachte schon, es sei etwas Ernstes.«
    »Es ist ernst! Ich bleib nicht länger hier drin. Raus will ich! Raus!«
    »Ja, ja, natürlich. Warte.« Lapidius hielt es für das Beste, zunächst einmal auf seine Patientin einzugehen. Er kramte in seinen Taschen nach dem Schlüssel, fand ihn nicht, suchte erneut und erkannte endlich, dass Marthe ihn noch haben musste. Eine Erklärung murmelnd hastete er hinunter in die Küche, wo er die Magd am Herd vorfand. »Marthe, den Schlüssel zur Kammer! Schnell!«
    »Den habich nich, Herr.«
    »Großer Gott, wo ist er denn, ich …«
    »Wo soller schon sein, Herr. Wie Ihr gesacht habt, hinterm losen Stein, wennich ihn nich haben darf. Wolltn bringen gestern Abend, aber Ihr wart j a …«
    »Schon gut.« Lapidius holte den Schlüssel hervor, eilte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, in den Oberstock zurück und sperrte auf.
    Freyja funkelte ihn an. »Ich kann Spinnen nicht ausstehen! Ekeln tu ich mich davor.«
    »Schon gut. Wo ist das Tierchen denn? Ahhh, da.« Lapidius hatte es auf einem Balken entdeckt und wischte es fort. »So, nun ist alles wieder im Lot.«
    »Nichts ist im Lot. Ihr habt versprochen, dass Marthe die Spinnen wegnimmt. Jeden Tag.« Lapidius nestelte an seiner Samtkappe. »Jaja, das tat ich. Ich muss gestehen, ich habe vergessen, es ihr zu sagen. Ich werde es später nachholen.«
    »Alles ist schlimmer, als ich gedacht hab. Viel schlimmer. In meinem Kopf dröhnts, als saß ein Schwarm Hornissen drin, und die Glieder tun mir sämtlich weh.«
    Lapidius betrachtete ihr Gesicht mit Wehmut, nicht zuletzt, weil er an seine wartende Versuchsvariation dachte. Sich vor ihr auf den Boden setzend, antwortete er:

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