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Die Hitzkammer

Die Hitzkammer

Titel: Die Hitzkammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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abzustatten.
    Lapidius lief der Schweiß aus allen Poren. Mühsam stapfte er Schritt für Schritt bergauf. Die Stadtwache am Osttor hatte ihm Auskunft gegeben, wie er am besten auf die Zirbelhöh kam, und zunächst war er zügig vorangekommen. Doch der Apriltag war ungewöhnlich warm, und die Sonne stand nahezu im Zenit. Je höher er stieg, desto mehr musste er sich eingestehen, dass er ein schlechter Kletterer war.
    Nach einem guten Stück Weges, die Häuser von Kirchrode lagen bereits spielzeugklein unter ihm, entdeckte er eine Abkürzung, die rechter Hand durch den Fichtenwald direkt zur Spitze der Zirbelhöh führte. Eine einzelne riesige Buche stand dort oben und grüßte herunter. Er beschloss, den Pfad zu verlassen, um Zeit und Kraft zu sparen. Der Baum würde ein guter Anhaltspunkt sein.
    Wenig später wusste er, dass er einen Fehler gemacht hatte, denn der Pfad verlor sich, und die Fichten umstanden ihn dicht an dicht wie feindliche Krieger, jegliche Sicht versperrend.
    Lapidius verhielt und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein Puls raste, während er bemüht war, seine Gedanken zu ordnen. Gut, er hatte sich verlaufen, aber musste er nicht einfach nur bergan gehen, um automatisch zur Spitze zu gelangen? Nein, das brachte ihn nicht weiter. Der Boden unter ihm zeigte durchaus nicht immer Gefälle, und an dieser Stelle war er nahezu eben. Bei der Abzweigung hatte die Zirbelhöh im Osten gelegen, erinnerte er sich, er musste also nur in diese Richtung marschieren, um ans Ziel zu kommen. Aber wo lag Osten? Irgendwann einmal hatte er gehört, dass Ameisen ihre Eier am Südrand des Hügels ablegten und dass die moosbesetzte Seite der Baumstämme nach Norden wies. Doch nirgendwo im Dämmerlicht des Waldes konnte er einen Ameisenhügel entdecken, geschweige denn eine moosige Rinde.
    Eine Lichtung! Wenn er einfach weiterging, musste er irgendwann auf eine Lichtung treffen. Dort würde er sich orientieren können. Mit neuem Mut schritt er aus, doch die Füße schmerzten ihn, und die Zeit zog sich dahin. Irgendwann wusste er nicht mehr, wie lange er bereits wieder unterwegs war, aber nach seinem Eindruck mussten es Stunden sein. War er im Kreis gegangen? Die Bäume sahen alle gleich aus, und der Boden war stets von derselben Beschaffenheit: braun, federnd, nadelig. Und noch immer war keine Lichtung in Sicht. »Hilfe!«, rief er. »Hilfe! Hört mich jemand?«
    Er marschierte weiter. Die Anstrengung ließ ihn mehr und mehr durch den Mund atmen, was ihm Zunge und Gaumen ausdörrte. Durst begann ihn zu quälen, und er wünschte sich sehnlichst einen Becher kühles Brunnenwasser. Freyja fiel ihm ein. Wie hatte er ihr diese Erfrischung nur verweigern können! An einem Becher mehr oder weniger konnte die Behandlung nicht scheitern. »Hilfe!«, schrie er abermals. »Hiiilfe!«
    Ein Geräusch ließ ihn herumschnellen. Zweige hatten sich geteilt und einem Kerl Platz gemacht, der schwankend dort stand. Es war ein älterer Mann mit stoppeligem Bart und Triefaugen. Seine Rechte hielt einen Krug, den er, trotz seines Hin- und Herschwankens, mit jener Geschicklichkeit in der Senkrechten bewahrte, die auf langjährige Übung schließen ließ. Die Linke lag am Gemächt, wahrscheinlich, weil er gerade Wasser gelassen hatte. Mit dem stieren Blick des Betrunkenen musterte er Lapidius. »Wa… was schreistn so … Ku… Kumpel? Ha… haste Angst?«
    Lapidius war im Widerstreit der Gefühle. Einerseits froh, endlich ein menschliches Wesen getroffen zu haben, andererseits die plump vertrauliche Anrede nicht gewohnt, trat er hastig einen Schritt zurück. Dann fiel ihm sein ärmlicher Aufzug ein. Natürlich, der Mann hielt ihn für seinesgleichen. Nun, vielleicht war das sogar von Vorteil. »Man nennt mich Lapidius«, sagte er. »Ich habe mich verirrt.«
    »U… un ich bin der o… olle Holm.« Wieder schwankte der Alte wie ein Rohr im Wind, den Krug dabei eisern in gerader Position haltend.
    »Holm?« Lapidius kramte in seiner Erinnerung. Dann wusste er es wieder. »Du bist der, der die Tote auf dem Gemswieser Markt entdeckt hat. Stimmts?«
    »Sti… stimmt, Kumpel. Da… das war viel… vielleichtn Schreck, sach ich dir, hupps, da st… steht noch einer drauf, ko… komm mit.« Der Alte verschwand zwischen den Zweigen, und Lapidius beeilte sich, ihm zu folgen. Nach kurzer Wegstrecke blieb Holm vor einer armseligen Behausung stehen und verkündete voller Stolz: »M… mein Heim.«
    Lapidius musste den Kopf wegdrehen, um Holms

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