Die Hoehle der Traenen
weißt, was du da eigentlich singst.«
»Kennt Ash viele der alten Lieder?«, fragte Flax begierig.
»Ja«, sagte Rowan. »Er kennt sie jetzt alle.«
Sie lagerten für die Nacht in einem engen Hohlraum unter zwei Weiden – eine für sie beide, die andere für die Tiere. Nachdem sie es sich eingerichtet hatten und er die Pferde gestriegelt hatte, kroch Flax noch einmal hinaus und durchstreifte ein nahegelegenes Haferfeld nach Futter. Dabei bemühte er sich, von jeder Reihe nur ein wenig zu nehmen, damit der Bauer am Morgen keinen Alarm schlagen würde. Er war dazu erzogen worden, zu kaufen, nicht zu stehlen, aber das bereitete ihm jetzt keine Sorgen. Nach all diesen Anstrengungen haben wir ein wenig zu essen verdient, dachte er.
Mit einem Arm voll Hafer kehrte er zurück, und Mud und Cam stupsten ihn begierig mit den Nasen an, sodass er fast alles fallen ließ. Sorgfältig teilte er seine Beute in zwei gleiche Haufen und stellte sich dann zwischen die beiden, sodass Mud, die schneller fraß als Cam, dieser nicht ihre Portion stehlen würde.
»Wenn wir weiterhin jeden Tag reiten werden, brauchen sie mehr als nur Gras«, erklärte er Rowan, als dieser danach fragte. »Das hier ist gerade erst reif, sie sind früh dran, aber hier unten in dem Tal ist es geschützt, und dieser Hang da hinten ist eine Sonnenfalle.«
Rowan war ein guter Lagerfeuerkoch, selbst angesichts der
mageren Ration, die ihnen noch geblieben war. Nachdem sie gegessen hatten, holte er eine Angelschnur aus seinem Bündel und beköderte den Haken mit dem letzten Stückchen Käse. Dann kletterte er auf eine Weidenwurzel, die in den Wasserlauf ragte, und wickelte die Schnur aus.
»Man weiß nie«, sagte er.
Es mochte der Fluss gewesen sein, der für sie sorgte. Jedenfalls hing am nächsten Morgen ein stattlicher Hecht am Haken, und Hechte waren nicht gerade dafür bekannt, eine Schwäche für Käse zu haben.
Rowan entfachte ein kleines, fast rauchloses Feuer und kochte den Fisch rasch. Danach löschte er die Glut. Der Hecht schmeckte köstlich, auch ohne Salz, das ihnen am Tag zuvor ausgegangen war. Flax hätte noch zwei weitere verdrücken können.
An dem nun folgenden Tag wechselten sich Anspannung und Langeweile ständig ab. Ausschau zu halten wurde für Flax zu einer Besessenheit. Der Schweiß rann ihm den Rücken hinab, und er musste sich immer wieder in Erinnerung rufen, die Hände entspannt zu lassen, damit Cam nicht nervös wurde. Jedes Mal, wenn er ein Geräusch vernahm oder in der Ferne auf den Feldern eine Gestalt wahrnahm, stellte sich schlagartig die Erinnerung an jene Axt ein, die durch die Luft und an ihren Ohren vorbeigesaust war, die Erinnerung an den Hass im Gesicht der Rothaarigen.
Doch nichts geschah. Niemand rief laut: »Wanderer!«
Auf diese Entfernung wirkten sie ehrbar, wie es bei Reitern stets der Fall war. Flax hob leutselig die Hand, wenn ihnen jemand begegnete, und niemand warf ihnen einen zweiten Blick zu.
Als sich Baluchston vor ihnen jenseits des Wassers erhob, war er erschöpft. Hoffentlich hatte Rowan Recht, und der
See beschützte sie wirklich, denn er selbst traute sich dies nicht zu.
Als einzige Fahrgäste überquerten sie mit einer Fähre das schmale Ende des Sees. Der Fährmann schaute sie scharf an, nannte ihnen jedoch nur den Fahrpreis und schwieg dann. Rowan reichte ihm einige Kupfermünzen, und sie führten die Pferde auf das flachbodige Schiff. Es gab hier Fähren in allen möglichen Größen, je nachdem, was es überzusetzen galt; sie selbst hatten die große genommen, die Pferde, Karren und Hunde aufnehmen konnte.
Flax hatte damit gerechnet, Mud und Cam würden nervös werden, doch obwohl sie am Rand der Fähre schnupperten, blieben sie ruhig, als wären sie es gewohnt, auf einem Boot transportiert zu werden. Er fragte sich, wo Bramble wohl schon mit ihnen gewesen war und was sie dort getan hatte.
Auf der anderen Seite des Sees wartete ein Mann auf die Fähre. Er hatte einen verkniffenen Mund, ergrauendes Haar und trug einen wunderschön verzierten, dunkelbraunen Ledergürtel, den er sich um seine ausladende Hüfte geschlungen hatte. Flax beäugte ihn neidisch.
Rowan bemerkte seinen Blick und lächelte. »Meinem Freund gefällt deine Arbeit, Reed. Er ist Sänger wie Swallow«, sagte er und wandte sich dann an Flax. »Reed arbeitet hier in der Gegend als Lederer.«
Flax wurde rot. Er war nicht habgierig, aber der Gürtel war wirklich wunderschön, und nach den letzten Tagen war es nötig, sich
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