Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition)
man noch am Leben war, und für viele ließ sich das leicht ertragen. Für Neil allerdings gleicht die Hölle in keiner Weise seinem vergangenen Dasein in der Welt der Sterblichen. Sein unsterblicher Körper hat wohlgeformte Beine, was er aber kaum bemerkt, und er hat seine Augen wiedererhalten, erträgt es aber nicht, sie zu öffnen. Der Anblick des himmlischen Lichts hat ihm ein Bewusstsein für die Allgegenwart Gottes in der Welt der Sterblichen verliehen, und ebenso hat es ihm vor Augen geführt, dass Gott in der Hölle völlig abwesend ist. Alles, was Neil sieht, hört oder berührt, erfüllt ihn mit Verzweiflung, und anders als auf der Erde ist dieses Leid keine Folge von Gottes Liebe, sondern beruht auf Seiner Abwesenheit. Neil erduldet nun größere Qualen, als es Sterblichen wie ihm je möglich gewesen war, doch seine einzige Reaktion besteht darin, Gott zu lieben.
Neil liebt Sarah noch immer, und er vermisst sie wie eh und je. Sein Wissen, dass er es fast geschafft hätte, wieder bei ihr zu sein, macht alles nur noch schlimmer. Er weiß, dass nicht seine eigenen Taten schuld daran sind, dass er in die Hölle gekommen ist – dass es keinen Grund dafür gibt und dass es keinem höheren Ziel dient. Doch das alles kann seine Liebe zu Gott nicht schmälern. Wenn es für ihn eine Möglichkeit gäbe, doch noch in den Himmel zu kommen und sein Leiden zu beenden, so würde er sich das nicht erhoffen. Solche Sehnsüchte suchen ihn nicht mehr heim.
Neil ist sich auch darüber im Klaren, dass seine Liebe zu Gott von Ihm nicht erwidert wird, denn Gott nimmt ihn gar nicht wahr. Auch das beeinträchtigt seine Gefühle für Gott nicht, denn uneingeschränkte Liebe verlangt nichts, auch nicht, dass sie erwidert wird.
Und so kommt es, dass Neil, obwohl er seit vielen Jahren von Gott vergessen in der Hölle darbt, Gott immer noch liebt. Das ist das wahre Wesen echter Frömmigkeit.
Der Kaufmann am Portal des Alchemisten
O mächtiger Kalif und Herrscher über die Gläubigen, demütigst verneige ich mich vor dem Glanz Eurer Gegenwart; einen größeren Segen kann sich ein Mann in seinem Leben nicht erhoffen. Eine wahrhaft seltsame Geschichte habe ich Euch zu erzählen, und selbst wenn man sie in ihrer ganzen Länge auf einen Augapfel tätowieren würde, so könnte das Wunder ihrer Darbietung das ihres Inhaltes nicht übertreffen, denn sie ist jenen eine Warnung, die gewarnt sein, und jenen eine Lehre, die lernen wollen.
Mein Name ist Fuwaad ibn Abbas, und ich wurde hier in Bagdad, der Stadt des Friedens, geboren. Mein Vater war ein Getreidehändler, doch ich selbst habe die meiste Zeit meines Lebens als Lieferant feiner Stoffe gearbeitet. Ich habe mit Seide aus Damaskus und Leinen aus Ägypten gehandelt und mit von Gold durchwirkten Tüchern aus Marokko. Ich war wohlhabend, doch Sorge erfüllte mein Herz, und weder das Schwelgen in Luxus, noch das Spenden von Almosen konnten es besänftigen. Nun stehe ich zwar ohne einen einzigen Dirham in meiner Tasche vor Euch, doch habe ich Frieden gefunden.
Allah ist aller Dinge Anfang, doch mit der Erlaubnis Eurer Majestät lasse ich meine Geschichte mit jenem Tag beginnen, an dem ich durch das Viertel der Metallschmiede spazierte. Ich wollte für einen Mann, mit dem ich Geschäfte machte, ein Geschenk kaufen, und hatte gehört, dass er an einer Silberdose Gefallen finden würde. Nachdem ich mich eine halbe Stunde lang umgesehen hatte, bemerkte ich, dass eines der größten Geschäfte des Marktes von einem neuen Inhaber übernommen worden war. Das Ladenlokal war hoch angesehen, und sein Erwerb musste teuer gewesen sein, also ging ich hinein, um mir sein Angebot anzusehen.
Noch nie zuvor hatte ich so eine herrliche Auswahl an Waren gesehen. In der Nähe des Eingangs befand sich ein Astrolabium mit sieben silberverzierten Scheiben, eine Wasseruhr, die zu jeder Stunde schlug, und eine Nachtigall aus Messing, die sang, wenn der Wind wehte. Weiter im Ladeninneren harrten noch mehr ausgeklügelte Mechanismen ihrer Käufer, und wie ein Kind einen Jongleur anstarrte, starrte ich diese an, als aus einem Durchgang im hinteren Teil des Ladens ein alter Mann hervortrat.
»Willkommen in meinem bescheidenen Geschäft, mein Herr«, sagte er. »Mein Name ist Bashaarat. Wie kann ich Euch dienen?«
»Das sind erstaunliche Dinge, die Ihr hier feilbietet. Ich stehe im Kontakt mit Kaufleuten aus allen Weltgegenden und habe doch niemals dergleichen gesehen. Woher, wenn ich fragen darf, bezieht
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