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Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition)

Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition)

Titel: Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ted Chiang
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sie starb, und dennoch liebte er Gott, nicht trotz ihrer Leiden, sondern wegen ihnen.
    Er schwor all seinem früheren Ärger, seiner Unentschlossenheit und seinem Verlangen nach Antworten ab. Er war dankbar für all die Schmerzen, die er ertragen hatte, voller Reue, dass er sie nicht schon früher als die Gnade verstanden hatte, die sie waren, und jubelte innerlich, dass ihm nun Einsicht in Gottes wahren Willen gewährt worden war. Er begriff, dass das Leben ein unverdientes Geschenk war, und dass auch die Tugendhaftesten es nicht verdienten, die Herrlichkeit des sterblichen Lebens genießen zu dürfen.
    Für Neil waren alle Geheimnisse gelüftet, denn er verstand nun, dass alles im Leben eigentlich Liebe war, auch Schmerzen – vor allen Dingen Schmerzen.
    Einige Minuten später, als Neil schließlich verblutete und starb, hatte er es wahrhaftig verdient, errettet zu werden.
    Und Gott ließ ihn trotzdem zur Hölle fahren.
     
    Ethan hatte all das beobachtet. Er sah, wie Neil und Janice durch das himmlische Licht neu erschaffen wurden, sah die gottesfürchtige Liebe auf ihren augenlosen Gesichtern. Er sah, wie der Himmel sich klärte und das Licht der Sonne zurückkehrte. Er hielt Neils Hand und wartete auf die Sanitäter, bis Neil starb, und er sah, wie Neils Seele seinen Körper verließ und anfänglich gen Himmel aufstieg, nur um dann doch zur Hölle hinabzugleiten.
    Janice sah nichts von alledem, denn zu dem Zeitpunkt hatte sie bereits keine Augen mehr. Ethan war der einzige Zeuge, und er begriff nun, dass es diese Rolle war, die Gott ihm zugedacht hatte: Janice Reilly bis zu diesem Ereignis zu begleiten und für sie zu sehen, was sie nicht mehr schauen konnte.
    Nachdem die Statistiken von Barakiels Erscheinung zusammengetragen worden waren, lautete das Ergebnis, dass es insgesamt zehn Opfer gegeben hatte, sechs davon Lichtsucher, die anderen gewöhnliche Pilger. Neun Wallfahrer hatten Wunderheilungen erfahren. Neil und Janice waren die Einzigen, die das himmlische Licht gesehen hatten. Es gab keine Zahlen darüber, wie viele Pilger gespürt hatten, dass die Erscheinung ihr Leben für immer verändert hatte, aber Ethan rechnete sich dieser Gruppe zu.
    Seit ihrer Rückkehr nach Hause verbreitete Janice weiter ihre frohe Botschaft, doch das Thema ihrer Reden hat sich gewandelt. Sie spricht nicht mehr davon, dass die körperlich Behinderten über die Mittel verfügen, ihre Beeinträchtigungen zu überwinden. Wie die anderen Augenlosen predigt sie stattdessen über die unfassbare Schönheit von Gottes Schöpfung. Von jenen, für die sie einst eine Quelle der Inspiration gewesen war, wenden sich viele enttäuscht von ihr ab, denn sie haben das Gefühl, eine spirituelle Führerin verloren zu haben. Die Janice von einst, die als Behinderte von der ihr eigentümlichen inneren Kraft gesprochen hatte, war etwas Besonderes, etwas Seltenes gewesen. Nun aber, als Augenlose, klingt ihre Botschaft banal. Es bekümmert sie nicht, dass ihr Publikum schrumpft, denn nun ist sie vollkommen überzeugt von dem, was sie predigt.
    Ethan hat seinen Beruf als Bibliothekar aufgegeben und ist Prediger geworden, um ebenfalls von seinen Erfahrungen berichten zu können. Seine Frau Claire konnte sich mit seiner neuen Sendung nicht abfinden und hat sich schließlich von ihm getrennt und die Kinder mitgenommen. Ethan aber war gewillt, seinen Weg alleine zu gehen. Indem er den Menschen berichtet, wie es Neil Fisk ergangen ist, versammelt er eine beträchtliche Gefolgschaft um sich. Ethan predigt den Menschen, dass man sich für das Leben nach dem Tode genauso wenig Gerechtigkeit erhoffen kann wie für die Welt der Sterblichen, aber er predigt das nicht, um irgendjemanden davon abzubringen, Gott zu verehren. Ganz im Gegenteil – er ermuntert seine Zuhörer, genau das zu tun. Eindringlich warnt er sie davor, sich bei ihrer Gottesliebe von irrigen Vorstellungen leiten zu lassen, denn sie müssten sich darauf gefasst machen, Ihn zu lieben, ohne Rücksicht darauf, was Sein Wille ist. Gott ist nicht gütig. Gott ist nicht gnädig. Und das ist ein grundlegender Bestandteil jedes wahren Glaubens.
    Obwohl Neil Ethans Predigten nicht mehr zur Kenntnis nehmen kann, hätte er ihnen vorbehaltlos zugestimmt. Neils verlorene Seele ist die Verkörperung von Ethans Lehre.
    Für die meisten ihrer Bewohner unterscheidet sich die Hölle nicht wesentlich von der Erde. Die hauptsächliche Strafe besteht darin zu bereuen, Gott nicht innig genug geliebt zu haben, als

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