Die Hölle von Tarot
widerstreitenden Zügen des harten, entbehrungsreichen Lebens der Nomaden und des bequemeren, ruhigen Lebens in der Stadt.“
Da war auch seine eigene Krise wieder: Land gegen Stadt! In welche Richtung würde sich dieser Stamm bewegen? Der Kampf verlief unterschwellig, aber heftig.
„Jakob schloß, wie es Jungen tun können, mit Esau einen Handel um die Erstgeburtsrechte ab und betrog seinen Vater daraufhin, damit er ihm den Segen erteilte. Das war eine Form des Betrugs. Doch wichtig ist, daß die Menschen zur Zeit der Bibel geduldig und menschlich mit menschlichen Sünden und Fehltritten umgingen, und sie irrten aufgrund von Vorurteilen und Leidenschaft. Jahve stellten sie damit hart auf die Probe.“
„Ja“, stimmte Abraham zu, und Bruder Thomas nickte. So weit, so gut also. Aber Bruder Paul war noch nicht aus dem Schneider.
„Jakob wiederum wurde betrogen, vielleicht als Wiedergutmachung“, fuhr er fort. Ihm schwitzten die Hände; wiederholt wischte er sie sich an der Bettdecke trocken. „Als er sieben Jahre gearbeitet hatte, um die schöne Rachel heiraten zu können, entdeckte er nach der Heirat, daß der Vater sie durch die ältere Schwester Lea ersetzt hatte. Jetzt mußte er weitere sieben Jahre für Rachel arbeiten. Er durfte Rachel allerdings nach einer Woche ehelichen und brauchte nicht zu warten. Während er die Schuld abarbeitete, hatte er also zwei Frauen. Und vielleicht war hier auch die Hand Gottes im Spiel, denn wie sich herausstellte, war Rachel unfruchtbar. So war es Lea, die ihm eine Reihe von guten Söhnen schenkte. Da gab ihm Rachel, um den Status zu wahren, ihre Magd, um zu: mindest einen Ersatzsohn zu haben. Und Lea schenkte ihm ihre hübsche Magd, um noch einen Sohn zu bekommen – nun, das kann man Fleischeslust nennen, aber es ist nicht ganz gerecht. Es geschah ja alles zum Zwecke der Vergrößerung des Stammes, und da damals Unterbevölkerung ein großes Problem darstellte …“
Bruder Thomas, der Dominikanermönch, breitete die Hände aus. „Bruder, ich dachte, Ihr wolltet mich täuschen, aber ich sehe, daß Ihr offensichtlich gut in der Bibel Bescheid wißt.“
„Jakob war es, der betrog“, fuhr Bruder Paul, schwach vor Erleichterung, fort. „Und sein Schwiegervater. Jeder hatte seine Motive dafür …“
„In der Tat ist Eure Bibelkenntnis so spezifisch, daß ich vermuten muß, Ihr habt sie gelesen.“
O nein. Bruder Paul fiel es heiß ein: Im Mittelalter sah es die Kirche nicht gern, wenn jedermann in der Bibel las. Man hielt sie für viel zu wichtig, als daß jeder hergelaufene Gläubige sie hätte nutzen dürfen. Statt dessen wurde sie nur von der herrschenden Klasse benutzt und interpretiert. Er war also in eine weitere Falle gelaufen.
„In meinem Land lesen mehr Laien die Bibel als hierzulande.“ Welch eine Untertreibung! „Und als fahrender Sänger bin ich daran gewöhnt, Geschichten auswendig zu lernen. Es ist leicht, sich an die größte Geschichte, die es je gegeben hat, zu erinnern.“ Würde er damit durchkommen?
„Ich muß Eure Verdienste als christlicher Gelehrter anerkennen“, fuhr Bruder Thomas fort. „Ich muß mich dafür entschuldigen, Euch während Eurer Krankheit aufgesucht zu haben.“
Sieg! Bruder Paul hatte seinen Kommentar so formuliert, daß er sowohl die Mormonen als auch die Juden verteidigte, und das hatte sich ausgezahlt. Mehrere Frauen – und das zu einem guten Zweck.
„Ja, aber die Sache mit dem Ringen mit Gott …“, sagte Abraham, unfähig, sich diesen Scherz zu verkneifen.
Bruder Paul sah schon wieder das Verhängnis drohen. Wenn Bruder Thomas dagegen etwas hatte …
„Wir alle ringen zuweilen mit Gott“, erwiderte der Dominikaner. „Wir nennen es das Gewissen. Das menschliche Fleisch ist schwach, aber Gott ist stark – wir müssen deshalb immer auf Gott hören.“
„Ja“, antwortete Bruder Paul und entspannte sich wieder. Die Gefahr war offensichtlich endgültig vorüber!
Bruder Thomas wandte sich zur Tür. „Ich muß mich noch einmal entschuldigen für die Belästigung. Lebt wohl.“ Dabei bekreuzigte er sich.
„Lebt wohl“, echote Bruder Paul und machte ebenfalls das Kreuzeszeichen. Doch ein wirklicher barba hätte das nie gemacht.
Es war ein Fehler. Die Hand schlug auf dem Tisch neben dem Bett auf, und das Tarotspiel fiel zu Boden. Es landete mit den Bildern nach oben auf dem Boden und krachte wie ein Donnerschlag. Verstreut lagen die Karten auf dem Boden.
Bruder Thomas wirbelte herum und bückte sich
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