Die Hölle von Tarot
erinnerte. An die Karosse aus dem Tarot natürlich – Kraft in Bewegung, Symbol für den Weg zur Erlösung.
Er ging weiter, wollte sie vorbeilassen und warf dabei immer noch verstohlene Seitenblicke auf die Pferde. Die Kutsche schien langsamer geworden zu sein und fuhr eher neben ihm her, anstatt ihn zu überholen.
„Gaukler!“ rief eine allzu vertraute Stimme.
O nein! Es war Bruder Thomas, der Dominikanermönch.
„Gaukler – warum geht Ihr zu Fuß, wenn Ihr fahren könnt?“ rief der Feind fröhlich. „Wie gut, daß ich die gleiche Strecke wie Ihr fahre.“
Bruder Paul dachte an Fortlaufen. Aber er konnte nicht schneller als die Kutsche rennen, jedenfalls nicht auf dem Weg. Er mußte sich schon quer durch den Wald schlagen. Er wußte, daß er nicht weit kommen würde, denn er war krank und schwach und brauchte Ruhe, während der Dominikaner zu Pferde und stark war.
Entmutigt stieg Bruder Paul in die Kutsche. Körperlich erleichtert sank er neben dem Mönch auf den Sitz. Was hätte er sonst tun können?
Die Kutsche kam zum Stillstand. Bruder Thomas stützte ihn mit fester Hand. „Wir haben einen Barbier hier, der Euch helfen kann“, sagte er. War das eine Drohung? Ein Barbier – doch bestimmt kein simpler Friseur. Ein mittelalterlicher Arzt. Der das schlechte Blut abzapfte, damit es dem Patienten besser ginge. Eine Behandlung, die sich als tödlich herausstellen konnte. „Nein …“, protestierte Bruder Paul schwach.
„Habt keine Angst“, meinte der Dominikaner beruhigend. „Unser Barbier nimmt nur die besten Blutegel, die man wöchentlich frisch aus der Seine holt.“
Blutsaugende Würmer aus dem Fluß! Bruder Paul dachte, er müsse sich erbrechen, doch dafür mangelte es ihm an Kraft. Dann jedoch dachte er etwas anderes: „Die Seine?“
„Wir sind weit von Worms entfernt, Freund“, informierte ihn Bruder Thomas. „Ihr habt wie ein Toter geschlafen – und in der Tat habe ich befürchtet, das dies keine Übertreibung sei. Wir befinden uns im Herzen Frankreichs, in unserem Hauptkloster. Ist es nicht schön?“
Bruder Paul erhob sich so weit, daß er einen Blick darauf werfen konnte. Das Tor wurde gerade verriegelt. Die Fenster waren hoch und schmal. Es war eine richtige Festung. „Wunderschön“, meinte er wütend.
Er saß in der Falle – und die Karten war er auch nicht losgeworden. Er mußte sie wie ein Toter umklammert gehalten haben, um sie vor der Neugier des Mönches zu schützen. Oder vielleicht hatte die Animation die langweilige Passage der Reise einfach übergangen, so daß zwischendurch nichts geschehen war. Die Animationen waren real, hatten jedoch ihre eigenen Gesetze.
Sie gelangten zu einem zentralen Raum, in dem ein riesiges Feuer brannte. Froh ging Bruder Paul, der vor Kälte zitterte, darauf zu. Mehrere Mönche in Kapuzenmänteln umringten ihn. „Ihr müßt Euch ausruhen“, meinte Bruder Thomas. „Wir haben ein Zimmer für Euch. Wir werden Eure schmutzigen Kleider nehmen und Euch frische geben.“
Sollte er versuchen, Widerstand zu leisten? Es war hoffnungslos; er war krank und schwach, und sie waren viele und stark. Er würde dabei nichts gewinnen – und es gab noch die Chance, daß sie nichts Böses mit ihm vorhatten, daß ihn der Jude über die Motive der Dominikaner getäuscht hatte.
Blieb das Tarotspiel. Bruder Paul hatte die Karten gesehen, und der Darsteller Lee kannte aus seiner früheren Rolle dessen Bedeutung. Daher wußte Lee, was er suchte, und wenn er das Spiel in Händen hielt, konnte er eine rechtmäßige Untersuchung beginnen und das Geheimnis aufspüren. Bruder Pauls Entscheidung, die Waldenser zu meiden, hatte wohl die Strategie, sie auszuspionieren, ad absurdum geführt, und daher war die Animation sogleich zum nächsten Wettstreit angetreten. Nun stellten die Karten den Schlüssel dar. Wenn Bruder Paul und die Inquisition in Besitz der Karten gelangten, war die Aufspürung der Waldenser kaum zu vermeiden. Die Dominikaner würden die Karten nachahmen, Gauklerkleider anziehen, mit den Karten predigen – und das gesamte Publikum gefangennehmen, um ganze Ortschaften mit einem einzigen Streich auszulöschen. Es würde funktionieren, weil die Leute an die Echtheit eines jeden glaubten, der solche Karten bei sich trug – wie sie auch an Bruder Paul geglaubt hatten.
Ohne jene Karten hätte Bruder Thomas, der Dominikaner, keinerlei Beweis, daß Bruder Paul ein Ketzer war, und auch kein Mittel gegen die Waldenser. Er würde die Verfolgung
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