Die Hölle von Tarot
Gesichter und zogen die Nasen kraus, doch es war unmöglich, den Schuldigen herauszufinden. Offensichtlich produzierte ein solches Mahl erhebliche Blähungen, aber die Abneigung gegen hörbare Erleichterungen war wohl stark. Bruder Paul dachte an den Kommentar Mark Twains über dieses Thema, betitelt 1601 – eine fiktive Unterhaltung zwischen Königin Elisabeth von England und ihren Höflingen, darunter William Shakespeare. „ The pit itself hath furnished forth the stink“, murmelte Bruder Paul die berühmte Antwort des Dramatikers, als man ihn beschuldigte, den Gestank verursacht zu haben. „And heaven’s artillery hath shook the globe in admiration of it. “ Ein passender Kommentar für diese Folge, ausgespien durch den Teufel, den Herrn der Lüfte. Und wie hing das mit dem biblischen ‚Wind Gottes’ zusammen? Umfaßte die Bildsequenz ‚Schwert’ beim Tarotspiel wirklich auch Blähungen?
Doch nun kam Yvette zurück. Sie hatte ihm einen Riesenteller aufgehäuft: Fleisch in Zimtsauce, Aale in einer dicken, würzigen Sauce, Frumentum, ein dicker Pudding aus Weizenkörnern und Mandelmilch, mit Eigelb und Safran gelb gefärbt, Wild und verschiedene seltsame Knödel, die hoffentlich nach modernen Kriterien eßbar waren. Und – Gott segne sie! – den gewürzten Wein, den er verlangt hatte. Kein Durst mehr!
Welch einen Gegensatz dieser Teller zu der Nahrung der Bauern bildete! Aber es gab kein Eßbesteck. Er konnte natürlich die Finger nehmen, aber er wollte sich nicht der schlampigen Manieren bedienen, die er hier beobachtet hatte.
„Nehmt das Brot“, sagte Yvette feinfühlig. Das war Amaranth, die ihre Rolle fehlinterpretierte; eine echte mittelalterliche Dame wäre sich dieses Problems nicht bewußt gewesen.
O ja – das Brot. Eine dicke Scheibe geschmacksneutralen Brotes, etwa fünfzehn Zentimeter lang, das man als Tunker, Löffel und Teller benutzte. In einer solchen Situation absolut notwendig.
Bruder Paul schaufelte etwas Frumentum in sich hinein und spülte es mit einem Schluck Wein hinunter. Hoo! Das Zeug war stark. Sie mußten es heftig würzen, um den strengen Geschmack zu mildern. Aber wenn er sich der mittelalterlichen Lebensbedingungen recht entsann, dann war dies viel sicherer als Wasser zu trinken, denn der Alkohol tötete viele Bakterien ab. Das Wasser des oberen Rheinlaufes mochte vielleicht gut sein, aber Paris befand sich weit entfernt von dieser unberührten Wildnis.
Man erlaubte ihm, ungestört zu essen, beim Feuer zu stehen und mehrere Gläser Wein zu leeren. Sein Kopf fühlte sich schon viel leichter; lieber hätte er etwas Alkoholfreies getrunken, doch aus Durst ließ er diese Überlegung außer acht. Offensichtlich stimmte es: Im Palast des Königs besaß die Inquisition keine Macht. Wenn er also die Folter vermeiden wollte …
Yvette spähte an den Säulen vorbei, die das Dach stützten. „König Karl ist immer noch nicht gekommen“, bemerkte sie. „Ich werde Euch in sein Schlaf gemach bringen müssen.“
„Geht das denn?“ fragte Bruder Paul.
„O ja – ich bin schon oft da gewesen“, sagte sie und führte ihn fort. Nun, er hatte immerhin gefragt.
Aber das Schlafgemach, das höher lag als die Halle, war mehr als nur ein Raum für die Nachtruhe. In die Wand war ein Kamin eingelassen, der auch einen Abzug hatte, so daß man nicht durch Rauch belästigt wurde. Unzählige Höflinge hielten sich dort auf – es war offensichtlich eine halböffentliche Empfangshalle.
Der König ruhte auf dem großen viereckigen Himmelbett. Es sah aus wie eine Kutsche und er wie der Kutscher. Anstelle einer Krone trug er einen turbanartigen Kopfputz, doch das reichbestickte Gewand verriet seinen Rang. Dennoch erkannte ihn Bruder Paul – denn es war Therion. So wie Lee vom Ketzer zum Dominikaner aufgestiegen war, war Therion vom Juden zum Monarchen geworden. Sorgte Satan für die Seinen?
König Karl VI. von Frankreich blickte auf und sah sie. „Hallo, meine Schöne!“ rief er. „Komm und hol dir einen Kuß!“
Yvette ging auf ihn zu – und plötzlich konnte es Bruder Paul in Erinnerung an das Ende der Schwären Messe nicht mehr aushalten. Er drehte sich um und ging aus dem Raum.
Und dort stand Bruder Thomas vor ihm, verdächtig rasch bei dieser passenden Gelegenheit. „Nun begreift Ihr die Alternative! Wäre es nicht besser, in den Schoß der Kirche zurückzukehren?“
Die Alternative: Erlösung durch das Eingreifen der Geliebten des wahnsinnigen Königs. Und Amaranth würde
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