Die Hölle von Tarot
hartnäckiger Überzeugung. „Es gibt nur stumme Ketzer. Jene, die der anfänglichen Befragung standhalten, werden dann der zweiten Stufe unterworfen, die man die gewöhnliche Folter nennt.“ Er deutete auf ein über einen Balken geschlungenes Seil. „Das hier ist für die Strappado. Man bindet dem Verdächtigen die Arme auf dem Rücken. Dann zieht man ihn in die Luft und befestigt Gewichte an seinen Füßen, um die Schultern aus den Gelenken zu kugeln, ohne daß Blut fließt oder Spuren zurückbleiben …“
Glieder ausrenken. Das bedeutete: Selbst wenn der Gefangene anschließend freigelassen wurde, würde er niemals wieder bei voller Körper kraft sein. Aber natürlich würde man ihn nicht freilassen; seine Agonie würde immer mit dem Tod enden. Diese Vorstellung bescherte Bruder Paul Übelkeit, doch eine morbide Neugier zwang ihn zu der Frage: „Und wenn er weiterhin hartnäckig schweigt?“
„Dann müssen wir bedauerlicherweise zur dritten Stufe fortschreiten, die man die außergewöhnliche Folter nennt. Das ist die Squassation. Sie ähnelt dem Strappado, mit dem Unterschied, daß das Opfer höher gehängt und dann plötzlich bis einige Zentimeter über den Boden herabgelassen wird. Weil die Steine an seinen Füßen bis zu hundert Kilogramm wiegen, werden die Arme sogleich ausgerenkt, und der gesamte Körper wird grausam gestreckt. Dreimalige Anwendung reicht in der Regel, bis der Tod eintritt.“
Hatte man im mittelalterlichen Frankreich die Maßeinheit ‚Kilogramm’ verwendet? Wie auch immer, es war mehr, als ein Mensch wog. In jedem Fall eine rauhe Sache! „Und wenn selbst das kein Geständnis hervorbringt?“
„Das überlebende Opfer kann dann mit besonderen Maßnahmen befragt werden.“ Der Dominikaner zeigte eine grobe Zange. „Diese Zangen werden im Feuer erhitzt, und wenn sie glühend heiß sind, wird damit das Fleisch verbrannt. Oder man setzt ihn in einem Metallstuhl direkt über das Feuer, so daß seine Rückseite langsam gekocht wird. Man könnte ihm Hände und Füße abhacken. Oder …“
„Ich denke, das reicht“, unterbrach ihn Bruder Paul. Gab es hier einen Ort, in dem er sich in Ruhe übergeben konnte?
„Ich freue mich, dies zu hören.“ Der Blick Bruder Thomas’ bestand aus Siegesfreude, Erleichterung und kaum unterdrücktem Entsetzen. How can we tell the dancer from the dance? dachte Bruder Paul und betrachtete diese Zeile aus einem Gedicht von Yeats plötzlich mit neuem Verständnis. Welche Nostalgie er für diese Zukunft in fünfhundert Jahren verspürte! Wie konnte Bruder Thomas sein Gewissen mit dem des Gauklers vereinbaren? Satan prüfte ihn gewiß ebenso hart wie Bruder Paul. „Kommt hinauf, wo unsere Schreiber Euer Geständnis aufnehmen.“
„Ihr habt mich mißverstanden“, sagte Bruder Paul. „Ich habe nichts zu gestehen – außer meinen Glauben an die zeitlose und unendliche Güte Gottes.“
Enttäuschung – und erstickte Hoffnung. „Ihr schwört Eurem ketzerischen Glauben ab und sucht Zuflucht im Schoß der Heiligen Mutter Kirche?“ Was Kapitulation bedeutete, ebenso die Preisgabe der Information und die Neuschaffung des waldensischen Tarotspiels aus dem Kopf sowie den Verrat aller Waldenser, denen er bislang begegnet war. Lee wollte nicht an der Folter seines Freundes teilhaben, ebenso wie Bruder Paul nicht den Nagel durch das Handgelenk seines Freundes am Kreuz hatte schlagen wollen. Aber Lee wollte auch die Waldenser nicht der Verfolgung ausliefern. Doch seine Rolle mußte er richtig spielen, und er sah keinen Ausweg. „Ich warne Euch. Ihr könnt unserer Macht nicht entkommen. Keine Reue und keine falschen Bekenntnisse können Euch nützen.“ Für ihn wäre es das beste, wenn Bruder Paul entkommen könnte, so daß weder die Folter noch der Verrat eintrat. Daher dieser verdeckte Vorschlag: Versuche wenigstens, unserer Macht zu entkommen! Bruder Paul konnte sich bei diesem Versuch in den Tod stürzen, aber das wäre besser als die Alternativen der Kirche.
„Ich meine, daß ich mehr als genug von der speziellen – Großmütigkeit der Kirche weiß“, sagte Bruder Paul mit einer Handbewegung auf die Folterinstrumente. „Nun muß ich mich zurückziehen, um eine Entscheidung zu überdenken.“
„Natürlich.“ Bruder Thomas führte ihn hinaus und schloß die Schreckenskammer hinter ihnen. Es durfte nicht sein, daß sich irgend jemand hier einschlich und mit den Folterinstrumenten herumspielte! „Ihr könnt überlegen, so lange Ihr wollt – aber
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