Die hölzerne Hedwig
Wenn Marvin aufgeregt war, klang seine Stimme noch jünger. Man glaubte dann,
mit einem Schüler zu sprechen.
»Beruhige dich!«, sagte Karolina. »Die Spurensicherer sind fertig. Es kann nichts zerstört werden.«
»Aber es ist ein Einbruch! Die Tür war nur angelehnt. Das ist nicht in Ordnung!«
»Was hattest du überhaupt so früh in der Hütte zu suchen? Glaubst du, der Täter kehrt an den Ort seines Verbrechens zurück?«
Offensichtlich sah Marvin morgens und abends nach dem Rechten. Er war ständig in Bewegung und wusste genau, dass die Zeit
gegen die Ermittler arbeitete.
»Du musst auch mal schlafen«, sagte die Kommissarin mit geschlossenen Augen.
»Schlafen kann ich, wenn ich tot bin.«
»Was?«
»Habe ich in einem Song gehört. Klingt cool, oder? Wann schlafen Sie denn?«
»In den Phasen zwischen dem letzten und dem nächsten Anruf meiner Mitarbeiter.«
Der Groschen wollte bei Marvin nicht fallen. Karolina ließ sich bestätigen, dass in der Hütte nichts verändert worden |123| war. Keine Zerstörungen, kein Diebstahl. Aber in einem hatte Marvin Recht: Die Tür war nachts verschlossen. Jemand war also
eingebrochen. Ein Dummerjungen-Streich?
Sie gähnte. Gestern war es spät geworden. Sie hatte die Gelegenheit genutzt und die Mitglieder des Schützenvereins nach den
Bordons befragt. Die Aussagen begannen sich zu wiederholen. Interessant war das, was ein Schütze zu berichten wusste. Er hatte
Kassian mit Bordon gesehen. Mehr als einmal, denn der Schütze war Klempner und mehrere Tage im Gasthof beschäftigt gewesen.
Kassian und Bordon hatten im Hof gestanden, ein anderes Mal am Haus, sie waren zu den Pferden gegangen und einmal gemeinsam
in das Auto von Kassian gestiegen.
Hatte das etwas zu bedeuten? In jedem Fall widersprach es den Einlassungen Kassians. Bisher hatte Karolina im Verlauf der
Befragungen wenig erfahren. Aber sie hatte das vermeintliche Nichtwissen der Befragten als plausibel empfunden und nicht als
bewusst zurückgehaltene Informationen. War sie zu arglos gewesen? Aber auch Küchenmeister hatte bisher nicht unzufrieden gewirkt.
Auf seinen Instinkt gab sie viel, auch wenn sie es ihm nicht gestand. Lob vertrug der Kerl nicht, die kurze Leine war das
geeignete Handwerkszeug im Umgang mit ihm.
Deshalb schickte Karolina ihn gleich zur Hütte, er machte sich anstandslos auf den Weg.
Beim Frühstück traf sie Marvin nicht, auch nicht in seinem Nebenjob als Kellner. Er hatte immer Spätdienst. Im Gespräch mit
der Zentrale brachten sich beide Seiten auf Stand. Befragungen von Geschäftsleuten in den umliegenden Orten hatten kein Ergebnis
gebracht und wurden fortgesetzt.
|124| Das Jugendamt hatte die Polizei davon in Kenntnis gesetzt, dass es Interesse an Baby Bordon gab. Eine Dora Messer wollte als
Pflegemutter amtieren, bis sich die Zukunft des Säuglings geklärt habe. Sie hatte angegeben, nicht verheiratet zu sein, aber
in einer langjährigen festen Partnerschaft zu leben. Den Namen hatte Karolina noch nie gehört, doch dann fiel ihr Popeye ein.
Die Kommissarin sprach sich gegen die Pflegschaft aus. Sie hatte Dora kennengelernt, sie verwechselte das Baby offensichtlich
mit einem Hund.
Nach dem Frühstück fuhr sie zur alten Karolina. Die Haustür stand offen, in der Speisekammer glühten die Drähte.
»Warum haben Sie uns nicht gesagt, dass Sie eine Zeitlang in der Bordon-Hütte gewohnt haben?«
»Habe ich das nicht? Das tut mir leid. Also ich habe eine Zeitlang in Bordons Hütte gewohnt. Gut, dass wir darüber gesprochen
haben.«
Hätte sie sich weniger höhnisch geäußert, hätte die Kommissarin nicht weiter auf dem Thema bestanden. Aber nun musste sie
nachhaken und die Ältere zu sachgerechtem Umgang mit wichtigen Informationen anhalten. Die Kampfansage wurde angenommen.
»Was sollte euch das wohl bringen, dass ich vor zehn Jahren da gewohnt habe?«
»Es geht nicht darum, was uns das bringt. Das ist eine Information, die einfach fließen muss. Gute Frau, das ist ein Tatort,
da wurde ein Mensch getötet.«
»Ja, aber doch nicht vor zehn Jahren. War das Frühstück nicht in Ordnung? Oder ist es ein Frauenproblem?«
|125| Darauf konnte Karolina gerade gut. Sie verbat sich Anspielungen und sagte: »Wenn Sie uns so etwas vorenthalten, muss ich annehmen,
dass Sie uns auch andere Informationen vorenthalten.«
»Sie müssen nicht, Sie wollen. Weil Sie schlechte Laune haben. Wollen Sie einen Tee? Ich habe Krampflösendes im
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