Die hölzerne Hedwig
wichtig war zu wissen, was sonst nicht jeder wusste. Am besten: als Erste Bescheid zu wissen. Für diesen
eitlen Ehrgeiz brachte er Verständnis auf. Dieser Ehrgeiz würde ihm zum Vorteil gereichen. Wer so viel wusste und wer so gern
wusste, würde sein Wissen nicht für sich behalten. Nicht, wenn die richtigen Stichworte fielen. Macciato kannte einige Stichworte,
die über die Mauer des Schweigens springen würden. Das erste ließ er gleich fallen, es brachte ihm die Aufforderung ein, das
Haus zu betreten und nicht wie ein Götze auf der Schwelle zu verharren.
»Soll ich uns was zu essen kommen lassen?«, fragte die alte Karolina.
|152| »Glauben Sie denn, wir werden so lange beisammen sitzen, bis wir Hunger kriegen?«
»Werden wir nicht?«
28
200 Meter vor dem Pferch stand Karl der Bewegung nicht länger im Weg. Sie witterten ihr Zuhause und wurden schneller. Auch
die Hunde verkrümelten sich an den Rand, einer zum Schäfer, der zweite sicherte die andere Flanke ab. Die Schafe liefen. Blökend
und schiebend bewegte sich die Herde, Leiber drückten, wer aus den Rändern quoll, kam schneller voran und drängte in den Schutz
der Masse zurück, denn an den Rändern warteten die Hunde.
Das eingezäunte Nachtlager war groß, hochhaushoch ragte dahinter der Stall in den Himmel und ließ die Bäume im angrenzenden
Wald unter sich. Aber für den Stall war es noch nicht kalt genug.
Mit Hilfe seines Stocks fischte Karl das lahmende Tier aus der Menge. Er klemmte es zwischen die Schenkel und säuberte den
Huf. Es war ein Kampf, jedesmal, bis sie die Prozedur über sich ergehen ließen. Karl pulte die Steine heraus, schnitt das
Horn zurück und ließ das Schaf laufen.
Er näherte sich seiner Behausung. Die Tür war geschlossen, wie es sich gehörte. Karl sah das Licht. Er griff in die Tasche,
seine Hand fasste zu und blieb in der Tasche. Er holte die Hunde heran, kein Pfiff, keine Aufregung, sie waren an seiner Seite,
blickten zu ihm auf, waren bereit.
|153| Mit dem Stock stieß er die Tür auf. Die Frau, die sich über den Tisch beugte, entzündete die letzte Kerze, richtete sich auf
und sagte feierlich: »Das Essen ist fertig.«
Sie saßen am Tisch, sie waren sich nahe und kamen sich näher, und einer begann zu erzählen.
29
Sie klopfte zart, aber hartnäckig. Die alte Karolina richtete sich auf und nahm das Handtuch vom Kopf. In der Schüssel vor
ihr schwammen die krampflösenden Bestandteile der Blüten. Mit Inhalieren ließ sich die Erkältung um keine Minute abkürzen,
aber der Dampf befreite die Atemwege, und es roch belebend.
Die Frau vor der Tür war hochschwanger, letzter Monat. Sie trug einen Pelzmantel, leicht, wunderbar, teuer. Ins Wohnzimmer
drang sie ein wie bei einer Eroberung. Sophia Wolzoff, der Name veränderte die Chemie im Raum. Die alte Karolina kannte ihn,
es waren keine angenehmen Erinnerungen. Geldadel aus dem Bergischen Land, 1200 Beschäftigte, 350 Millionen Jahresumsatz, man
hatte früher miteinander zu tun gehabt. Dies war die neue Generation, Anfang 20.
»Sie wissen natürlich, dass es kein Zufall ist«, sagte die Schwangere.
Die alte Karolina wischte ihr Gesicht trocken. Es gab Begegnungen, die einem das eigene Alter bewusst machen. Der Pelz fiel,
als die Schwangere im Sessel saß, brach es aus |154| ihr heraus. Man hatte sie aus dem Haus geworfen, nach einem Streit mit Krach, Tränen, Vorwürfen, schrecklichen Unterstellungen.
Sophia sagte: »Ich will nichts mehr mit ihnen zu tun haben.«
Die alte Karolina dachte: Du gehst zurück. Millionen sind stärker als Magneten.
Die Familie war gegen ein Kind, bevor das Examen in Betriebswirtschaft in trockenen Tüchern war. Die Familie hasste Heimlichtuerei,
wenn sie von den Kindern kam und nahm das Schlimmste an: Ausländer, Künstler, verheirateter Mann. Dabei war es noch banaler.
Sophias Cousin war der Erzeuger, Senkrechtstarter im elterlichen Unternehmen, talentiert und feige. Der Gedanke, sich zur
Vaterschaft zu bekennen, trieb ihn in die Migräne. In der Familie hatte noch nie ein Mann an Migräne gelitten. Der Termin
war in vier Tagen, sie wusste nicht, wohin und bat die Hebamme um Asyl. Auf keinen Fall in ein Hotel, nicht in eine Klinik.
Sie wollte nicht gefunden werden, den Triumph gönnte sie ihren Leuten nicht. Sinn für Machtspielchen selbst mit dickem Bauch.
Die alte Karolina war erkältet und wollte kein Risiko eingehen. Entweder zog sie aus oder Sophia brauchte ein neues
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