Die hölzerne Hedwig
Jahre.«
»Das macht Spaß. Mal sehen, wie weit du gehst.«
Sie trieb Spielchen mit ihm. Er zügelte seine Ungeduld, sie sagte: »Ich kann dir das nicht sagen, was du hören willst.«
Er fing an zu reden. Sie hörte die Geschichte nicht zum ersten Mal, aber immer wieder gern. Ein kleines Würstchen hat bis
zum zehnten Geburtstag zehn Eltern gehabt und findet Ruhe bei den elften. Hier kann er sich austoben, der Garten ist über
2000 Quadratmeter groß. Er kann im Teich schwimmen, er angelt und klettert und muss in der Klasse nicht mehr vorne sitzen.
Er liest und lernt Gitarre spielen, und hätte er nicht nach der Schule diese Kneipe kennengelernt, wäre aus ihm ein Bürger
geworden: ehrgeizig, verheiratet, Bausparverträge.
Die alte Karolina wandte ein: »Es ist nie zu spät. Wir brauchen |211| keine Puffväter. Wir brauchen Leute in den Schulen und Verwaltungen, die weiter denken als bis zur nächsten Weihnachtsfeier.«
»Das wäre der sichere Weg, mich zu Tode zu langweilen.«
»Das willst du nicht?«
»Mich langweilen? Ich denke nein.«
»Vielleicht kommen wir ins Geschäft. Ich erzähle dir eine Geschichte, und du hörst damit auf, Frauen auszubeuten und Freier
auszunehmen.«
»Eine gute Geschichte?«
»Sie ist dir auf den Leib geschrieben.«
Sie fixierten einander. Er hoffte, dass sie das Gleiche dachte wie er. Er wollte nicht anders leben als bisher und endlich
wissen, wer er war. Er hatte ein Recht darauf wie jeder andere auch.
Sie fragte: »Hast du etwas mit dem Mord zu tun?«
»Es ist in meinem Haus passiert.«
»Aber du weißt nicht, was vorgefallen ist – an dem Abend?«
Er schüttelte den Kopf. Sie sah ihn lange an. Er blickte dahin und dorthin. Sie sagte: »Du hast richtig vermutet. Der Junge
bist du.«
Er blickte sie an, lächelnd fragte sie: »Spürst du schon, wie du ein besserer Mensch wirst?«
Macciato war das Baby gewesen, das das Massaker vor 35 Jahren überlebt hatte. Die Gründe für das Gemetzel hatte die Polizei
nie vollständig ermittelt: ein Durcheinander in zwei Familien mit Liebe, Erbschleicherei, kleinen Schikanen, die sich zu großen
auswuchsen. Macciatos Vater hatte ein Kuckuckskind geliebt. Er hatte den Braten gerochen und keine Ruhe mehr gegeben, bis
er wusste, wer der echte Vater |212| war. Dann war es blutig geworden. Der richtige Vater hatte das Ganze überlebt, aber es gab jemanden, der ihn wegen eines Einbruchs
in der Hand hatte. So musste er verschwinden, und als er den Kopf frei hatte, sich Gedanken um sein Kind zu machen, das für
sein Unglück verantwortlich war, saß es schon auf dem Karussell der Pflegeeltern. Obwohl er Himmel und Hölle in Bewegung setzte,
um sein Kind zu finden, blieb es verschwunden und niemand wusste, wo es steckte. Die Polizei nicht, die Jugendämter nicht.
Das Kind war verloren gegangen, und der Vater war mit seinem Zorn allein geblieben.
»Wo war ich?«, fragte Macciato.
»Ich könnte es dir erklären, aber es ist eine langweilige Geschichte mit viel Bürokratie und noch mehr Unwahrheit und auch
etwas Geld. Ich habe das mehr als einmal durchgezogen, weil mehr als einmal Kinder gerettet werden mussten.«
»Das kriege ich raus. Ich klemme mich dahinter. Ich kenne ja die Namen …«
»Niemand kennt die Namen außer mir und ich werde sie nicht nennen. Schon in diesem Moment habe ich sie vergessen. Wie war
gleich noch mal …? Nichts zu machen, alles weg. Ich verstehe auch gar nicht, warum du so versessen auf die Vergangenheit bist.
Ich denke, Zuhälter leben in der Gegenwart.«
»Ehrliche Antwort?«
»So gut sollten wir uns mittlerweile kennen.«
»Ich habe MS«.
»Weißt du, was ich eben verstanden habe?«
»Ich habe MS. Vor vier Jahren habe ich zum ersten Mal Gläser fallenlassen und es gab keinen der üblichen Gründe |213| dafür. An mehr als einem Tag hintereinander und mehr als ein Glas.«
Der erste Schub war leicht und es folgte eine Pause ohne Symptome. Dann der zweite Schub. Eines Morgens erwachte Macciato
und konnte sein rechtes Bein nicht bewegen. Er ging zu den besten Ärzten. Jede zweite Reise, die er seitdem unternommen hatte,
führte ihn zu Ärzten.
»Ich habe keine Angst, jedenfalls nicht mehr als normal ist. Aber das war der Auslöser. Ich will wissen, woher ich komme.
Nicht weil ich wissen will, wer mir dieses verdammte Schicksal vererbt hat. Ich will nur Klarheit. Das ist meine Medizin.«
Die alte Karolina ging auf ihn zu. Sie nahm den Mann in den Arm, sie stehend, er
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