Die Hofnärrin
April stieß ich auf
ein neues Werk, in dem ein kleiner Abschnitt des Totengebetes überlebt
hatte. Dies rief bei meinem Vater ein zustimmendes Lächeln hervor. Dann
hob er die Hand, und ich verstummte.
»Ja, es ist Zeit«, sagte er kurz. Seine Stimme war nur noch
ein Hauch. »Wirst du es auch schaffen, mein Kind?«
Ich legte das Buch auf den Stuhlsitz und kniete neben seinem
Bett nieder. Mit einiger Anstrengung legte er mir die Hand auf, um mich
zu segnen. »Sorgt Euch nicht um mich«, flüsterte ich. »Mir wird nichts
geschehen. Ich habe den Buchladen und die Druckerpresse, ich kann
meinen Lebensunterhalt bestreiten, und Daniel hat versprochen, immer
für mich zu sorgen.«
Er nickte. Schon trieb er von dannen, war zu weit fort, um
Ratschläge zu geben oder Einwände zu machen. »Ich segne dich, querida «, sagte er zärtlich.
»Vater!« Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich ließ meinen
Kopf aufs Bett sinken.
»Ich segne dich«, wiederholte er und lag ganz still.
Ich setzte mich wieder auf meinen Stuhl und blinzelte. Durch
den Tränenschleier vermochte ich kaum die Worte im Buch zu erkennen.
Dann begann ich zu lesen. »Gepriesen und geheiligt sei der Name des
Herrn auf der ganzen Welt, denn Er hat sie geschaffen nach Seinem
Willen. Möge Er Sein Königreich errichten für die Dauer deines Lebens
und die Existenz des Hauses Israel; und möge es geschehen rasch und
bald, so sage denn: ›Amen‹.«
Als die Pflegerin nachts an meine
Schlafzimmertür klopfte, war ich bereits angekleidet und saß wartend
auf dem Bett. Ich trat an meines Vaters Bett und sah ihm ins Gesicht:
Er lächelte, er war wie von innen her erleuchtet und ohne Furcht. Mir
war klar, dass er an meine Mutter dachte, denn wenn es irgendeine
Wahrheit in seinem Glauben oder im Glauben der Christen gab, würde er
sie bald im Himmel wiedersehen. Leise sagte ich zu der Pflegerin: »Du
kannst nun Doktor Daniel Carpenter holen gehen«, und lauschte dem
Klappern ihrer Holzpantinen auf der Treppe nach.
Ich setzte mich auf meines Vaters Bett und nahm seine Hand.
Sein schwacher Puls klopfte wie das Herz eines kleinen Vogels. Unten
ging leise die Tür, und ich hörte die Schritte zweier Menschen
heraufkommen.
Ich drehte mich zur Tür – und erblickte Daniels
Mutter auf der Schwelle. »Ich will mich nicht aufdrängen«, sagte sie
zaghaft. »Aber du weißt nicht richtig, wie die Dinge getan werden
müssen.«
»Das stimmt«, sagte ich. »Aber ich habe die Gebete gelesen.«
»So ist es recht«, stimmte sie zu. »Das hast du richtig
gemacht, nun kann ich das Übrige tun. Du kannst zusehen und lernen,
damit du weißt, wie es getan werden muss. So kannst du es für mich oder
einen anderen tun, wenn unsere Zeit gekommen ist.«
Leise trat sie auf das Bett zu. »Wie steht es, alter Freund?«,
grüßte sie ihn. »Ich bin gekommen, Euch Lebewohl zu sagen.«
Mein Vater schwieg, sah jedoch lächelnd zu ihr hoch. Sanft
legte sie einen Arm um seine Schultern und richtete ihn auf, sie drehte
ihn auf die Seite, sodass er auf die Wand blickte und den Rücken dem
Zimmer zukehrte. Dann setzte sie sich neben ihn und rezitierte
sämtliche Totengebete, derer sie sich entsinnen konnte.
»Lebewohl, Vater«, sagte ich leise. »Lebewohl, Vater.
Lebewohl.«
Daniel sorgte für mich, wie er es
versprochen hatte. Als Schwiegersohn erbte er sämtliche Güter meines
Vaters, doch noch am selben Tage ließ er alles auf mich überschreiben.
Er kam in mein Haus und half mir beim Ausräumen der wenigen
Habseligkeiten, die meinen Vater auf unseren langen Reisen begleitet
hatten. Er bat Marie, noch ein paar Monate bei mir zu bleiben. Sie
konnte unten in der Küche schlafen und mir Gesellschaft leisten, damit
ich in den Nächten nicht allein war. Mrs. Carpenter runzelte ob meiner
unweiblichen Unabhängigkeit unwillig die Stirn, doch kein Wort kam über
ihre Lippen.
Sie traf die Vorbereitungen für die Totenmesse und die geheime
jüdische Zeremonie, die am gleichen Tag hinter verschlossener Tür in
unserem Haus abgehalten werden sollte. Als ich ihr dankte, winkte sie
ab. »So hat es unser Volk seit jeher gehalten«, sagte sie. »Wir müssen
uns auf die Zeremonien besinnen und sie einhalten. Wenn wir sie
vergessen, vergessen wir uns selbst. Dein Vater war ein großer
Gelehrter unseres Volkes, er besaß Bücher, die andere schon fast
vergessen hätten, und er besaß den Mut, sie zu retten. Gäbe es nicht
Männer wie ihn, so hätte ich die Gebete nicht mehr gewusst, die ich an
seinem
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