Die Hofnärrin
Bett für ihn gesprochen habe. Und nun weißt auch du, wie es
richtig getan wird, und kannst es an deine Kindern weitergeben, und so
wird die Tradition in die nächste Generation überdauern.«
»Mit der Zeit«, wandte ich ein, »wird die Tradition
unweigerlich in Vergessenheit geraten.«
»Nein, warum sollte sie?«, fragte sie dagegen. »Wir
haben Sions gedacht an den Flüssen Babylons, wir gedenken
Sions in den Mauern von Calais. Warum sollten wir Sion je vergessen?«
Daniel fragte nicht noch ein Mal, ob ich ihm verzeihen würde,
ob wir einen Neubeginn unserer Ehe wagen könnten. Er fragte nicht, ob
ich mich nach seiner Liebkosung sehnte oder nach seinem Kuss, ob ich
mich danach sehnte, mich lebendig zu fühlen wie eine junge Frau im
Frühling und nicht wie ein Mädchen im Kampf gegen die ganze Welt. Er
fragte nicht, ob ich mich seit Vaters Tod schrecklich allein auf der
Welt fühlte, ob ich das Gefühl hätte, allein und verlassen dazustehen,
weder unserem Volk noch einem Mann oder einer Familie zugehörig. Er
fragte nicht, und ich sagte nichts. Wir verabschiedeten uns in aller
Freundschaft vor meiner Tür, wenn auch mit einem Unterton von Bedauern.
Ich stellte mir vor, wie er auf dem Heimweg beim Haus der drallen,
blonden Mutter seines Sohnes vorbeischaute. Dann ging ich wieder
hinein, schloss die Tür hinter mir und saß lange im Dunkeln.
Die kalten Monate hatten mir immer arg
zugesetzt, denn mein spanisches Blut war wohl immer noch zu dünn für
die feuchten Tage des Nordküstenfrühlings, und Calais war kaum besser
als London mit seinem Schneeregen und seinen grauen Himmeln. Nun, da
mein Vater nicht mehr war, hatte ich das Gefühl, als ob ein wenig von
dem eisigen Seewind und dem verhangenen Himmel in mein Blut
übergegangen wäre – und auch in meine Augen, die sich immer
wieder unvermittelt mit Tränen füllten. Ich aß nicht mehr richtig,
sondern ernährte mich wie der rechte Druckergeselle von einem Kanten
Brot in der einen Hand und einer Tasse Milch in der anderen. Ich hielt
mich nicht an die Fastengebote, wie mein Vater es getan hatte, und
zündete am Sabbat keine Kerze an. Stattdessen arbeitete ich am Sabbat
und druckte weltliche Bücher und scherzhafte Bücher und Theaterstücke
und Gedichte, als ob Gelehrsamkeit mir nichts mehr bedeutete. Mit der
Hoffnung auf ein wenig Glück im Leben hatte mich auch mein Glaube
verlassen.
Nachts konnte ich nicht schlafen und am Tag kaum die
Drucktypen setzen, weil ich übermüdet war. Die Geschäfte liefen
schleppend, denn in diesen unsicheren Zeiten bestand fast nur Nachfrage
nach Gebetbüchern. Oft ging ich zum Hafen hinunter, begrüßte die
Reisenden aus London und fragte nach Neuigkeiten; ich spielte mit dem
Gedanken, nach England zurückzukehren. Wenn die Königin mir verzieh,
konnte ich vielleicht wieder in ihre Dienste treten.
Doch die Nachrichten, die aus England eintrafen, waren so
düster wie der Himmel. König Philipp weilte zu Besuch bei seiner Gattin
in London, doch er brachte ihr wenig Freude. Alle sagten, er sei nur
heimgekehrt, um zu sehen, was er aus ihr herausschlagen könne. Es
gingen auch boshafte Gerüchte, dass er seine Geliebte mitgebracht habe
und jeden Abend vor den Augen der Königin mit ihr tanze. Maria musste
auf ihrem Thron sitzen und zusehen, wie Philipp mit einer anderen Frau
lachte und tanzte – und später seine Vorhaltungen gegen ihren
Geheimen Rat ertragen, dessen Verzögerungstaktik wegen des Krieges
gegen Frankreich den spanischen Prinzen verrückt machte.
Ich wollte zu meiner Königin. Ich stellte mir vor, dass sie
schrecklich einsam sein musste in einem Hofstaat, der nun fast zur
Gänze spanisch geworden war und sich unter der Führung der neuen
Maitresse des Königs auf hinterhältige Art über die wenig niveauvollen
Engländer lustig machte. Doch die Nachrichten aus England besagten,
dass die Verbrennung der Ketzer gnadenlos weiterginge, und mir war
klar, dass ich in England nicht sicher war – so wenig wie
anderswo.
Deshalb beschloss ich, trotz Kälte und Einsamkeit in Calais zu
bleiben. Ich würde bleiben und warten und hoffen, dass ich eines Tages
zu einer anderen Entscheidung fähig sein würde, dass ich meinen guten
Mut wiederfinden würde, dass ich eines Tages wieder fähig sein konnte,
mich zu freuen.
Sommer
1557
I m Frühsommer hallten die Straßen von Calais
wider von den Trommeln und dem Marschieren der Offiziere, die junge
Burschen für das englische Heer anwarben. Ständig liefen im Hafen
Schiffe
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