Die Hofnärrin
ich oder irgendein
Arzt ihn noch heilen kann.«
»Heilen?«, gab ich blöde zurück. »Er ist doch nur erschöpft!«
»Er stirbt«, sagte mein Ehemann ernst.
Einen Augenblick lang wollte ich es nicht glauben. »Aber
Daniel, das ist doch nicht möglich! Er ist doch ganz gesund!«
»Er hat ein Gewächs im Leib, das auf seine Lunge und sein Herz
drückt«, sagte Daniel ruhig. »Er kann es selbst ertasten, er weiß, wie
es um ihn steht.«
»Er ist doch nur erschöpft!«, protestierte ich lahm.
»Wenn es schlimmer wird, wenn er starke Schmerzen leidet,
werden wir ihm eine Arznei geben, die den Schmerz stillt«, versicherte
mir Daniel. »Danken wir Gott, dass er im Moment nur Müdigkeit verspürt.«
Ich ging zur Ladentür und öffnete sie, als erwartete ich einen
Kunden. Doch in Wahrheit wollte ich vor Daniels furchtbaren Worten
fliehen, vor diesem Kummer, der mich zu ersticken drohte. Der Regen,
der von allen Dachrinnen tropfte, rann in kleinen Schlammbächen
zwischen den Pflastersteinen in die Gosse. »Ich dachte, er wäre nur
müde«, wiederholte ich verständnislos.
»Ich weiß«, sagte Daniel.
Ich machte die Tür zu und stellte mich vor ihn. »Wie lange,
glaubst du, bleibt ihm noch zu leben?«
Ich dachte, es würde sich um Monate handeln, vielleicht gar um
ein Jahr.
»Tage«, sagte Daniel leise. »Vielleicht noch Wochen. Aber mehr
Zeit bleibt ihm nicht.«
»Tage?«, wiederholte ich verständnislos. »Wieso nur Tage?«
Er schüttelte den Kopf, seine Miene war voller Mitgefühl. »Es
tut mir leid, Hannah. Es dauert nicht mehr lange.«
»Soll ich noch einen Arzt hinzuziehen?«, fragte ich.
»Vielleicht deinen Lehrer?«
Daniel war nicht beleidigt. »Wenn du es wünschst. Aber jeder
Arzt würde dir das Gleiche sagen. Man kann die Geschwulst in seinem
Leib fühlen, Hannah, dies ist ein ganz klarer Befund. Sie drückt gegen
seinen Magen, gegen sein Herz, gegen seine Lungen. Sie drückt ihm das
Leben aus.«
Abwehrend streckte ich die Hände aus. »Halt!«, sagte ich
unglücklich. »Hör auf!«
Er verstummte abrupt. »Es tut mir leid«, bat er. »Aber er hat
keine Schmerzen. Und keine Angst. Er ist auf den Tod vorbereitet. Das
Einzige, um das er sich sorgt, bist du.«
»Ich?!«, rief ich aus.
»Ja«, betonte Daniel. »Du solltest ihm versichern, dass du
versorgt bist, dass dir nichts geschehen wird.«
Ich zögerte.
»Ich habe ihm versprochen, dass ich dich, solltest du in
Schwierigkeiten oder in Gefahr sein, vor allen anderen beschützen
werde. Ich werde dich als meine Ehefrau beschützen, so lange ich lebe.«
Ich hielt mich an der Türklinke fest, um mich nicht in seine
Arme zu stürzen und wie ein verlassenes Kind zu weinen. »Das war sehr
lieb von dir«, brachte ich heraus. »Ich brauche deinen Schutz nicht,
doch es war lieb von dir, ihn dessen zu versichern.«
»Unter meinem Schutz stehst du, ob du ihn benötigst oder
nicht«, gab Daniel zurück. »Ich bin dein Mann, und ich vergesse das
nie.«
Er nahm seinen Umhang vom Schemel vor dem Kamin und legte ihn
um seine Schultern. »Ich komme morgen wieder, ich komme jeden Tag gegen
Mittag«, kündigte er an. »Und ich werde eine verlässliche Pflegerin
finden, die bei ihm wacht, damit du dich ausruhen kannst.«
»Ich kümmere mich schon um ihn«, entgegnete ich. »Ich brauche
keine Hilfe.«
Daniel blieb in der Tür stehen. »Du brauchst Hilfe«, betonte
er sanft. »Du kannst so etwas nicht allein schaffen. Und du wirst Hilfe
erhalten. Ich helfe dir, ob du es willst oder nicht. Und du wirst am
Ende froh darüber sein, auch wenn du dich jetzt noch so dagegen wehrst.
Ich werde freundlich mit dir sein, Hannah, ob du es willst oder nicht.«
Ich nickte stumm; ich konnte nichts mehr sagen. Dann ging
Daniel hinaus in den Regen und ich ging nach oben zu Vater, nahm die
hebräische Bibel und las ihm daraus vor.
Wie Daniel vorausgesagt hatte, schwand mein
Vater rasch dahin. Getreu seinem Versprechen besorgte er uns eine
Pflegerin für die Nacht, sodass mein Vater nie allein war, nie fehlte
es ihm an einer brennenden Kerze im Zimmer und an den leise gemurmelten
Versen, die er liebte. Die Pflegerin mit Namen Marie war ein stämmiges
französisches Bauernmädchen, Tochter frommer Eltern, und sie kannte
sämtliche Psalmen auswendig. Nachts schlief mein Vater, eingelullt von
ihrer sanften Stimme mit dem rollenden Tonfall der Ile de France.
Tagsüber besorgte ein junger Bursche den Laden, während ich an meines
Vaters Bett saß und ihm Hebräisch vorlas. Erst im
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