Die Hofnärrin
stadtbekannte
Exzentrikerin in dieser Stadt der Flüchtlinge, Vagabunden, ehemaligen
Piraten, Marketenderinnen und Schwindler.
Außerdem gab es im neuen Jahr Angelegenheiten von größerem
Interesse, die weitaus boshafteren Klatsch hervorriefen. König Philipps
lang gehegter Wunsch, das Land seiner Ehefrau in den Krieg gegen
Frankreich hineinzuziehen, hatte schließlich über ihr besseres Wissen
gesiegt, und England und Frankreich hatten einander den Krieg erklärt.
Selbst im Schutz der mächtigen Mauern von Calais war es eine
erschreckende Vorstellung, das französische Heer könne bis zu den
Bollwerken vorrücken, welche die englischen Besitzungen umgaben. Die
Meinungen unter meines Vaters Kunden waren geteilt: Manche hielten die
Königin für eine ihrem Ehemann hörige Närrin, die verrückt genug war,
es mit dem mächtigen Frankreich aufzunehmen, andere hingegen glaubten,
dies sei die große Chance für England und Spanien, die Franzosen noch
einmal vernichtend zu schlagen und die Kriegsbeute unter sich
aufzuteilen.
Frühling
1557
W egen der heftigen Frühjahrsstürme mussten
die Schiffe im Hafen bleiben, Nachrichten aus England trafen daher mit
Verspätung ein und waren wenig verlässlich. Ich war nicht die Einzige,
die jeden Tag am Kai wartete und den einlaufenden Schiffen zurief: »Was
gibt es Neues? Was gibt es Neues aus England?« Die Frühjahrsstürme
schleuderten Regen und Gischt auf Dach und Fensterscheiben, und mein
Vater fror ständig bis auf die Knochen. An manchen Tagen konnte er
nicht einmal aufstehen; dann zündete ich ein kleines Feuer im Kamin
seines Schlafzimmers an, setzte mich an sein Bett und las ihm
Lieblingsstellen aus unserer Bibel vor. In trauter Zweisamkeit und bei
Kerzenschein sprach ich zu ihm in der rollenden, wohltönenden Sprache
unseres Volkes, und er lag in seinen Kissen und lächelte froh beim
Hören der alten Verse, die dem Auserwählten Volk ein eigenes Land und
ein wohlbehaltenes Leben versprachen. So gut ich es vermochte,
verschwieg ich ihm die Nachrichten, dass unser neues Heimatland nun mit
einem der mächtigsten Königreiche der Christenheit im Krieg lag. Fragte
er, so betonte ich, dass wir innerhalb der Stadtmauern sicher seien.
Was auch immer den Engländern in Frankreich zustoßen mochte oder den
Spaniern in Gravelines – wir zumindest waren sicher, da Calais
niemals fallen würde.
Im März, als die ganze Stadt König Philipp zujubelte, der auf
seinem Weg nach Gravesend bei London unseren Hafen passierte, hatte ich
wenig Zeit, um auf die Gerüchte über seine Kriegspläne und seine
Neigung zu Prinzessin Elisabeth zu achten. Ich wurde zunehmend
besorgter um meinen Vater, der trotz des wärmeren Wetters nicht
kräftiger wurde. Nach zwei sorgenvollen Wochen schluckte ich meinen
Stolz hinunter und schickte nach dem frisch approbierten Dr. Daniel
Carpenter, der in einem kleinen Ladenlokal auf der anderen Seite des
Kais eine eigene Praxis eröffnet hatte. Eben hatte der Gassenjunge
meine Nachricht überbracht, da traf Daniel auch schon ein. Er nahte
sich mir behutsam, als wollte er mich nicht zusätzlich beunruhigen.
»Wie lange ist er schon krank?«, fragte er und schüttelte das
Salz der Gischt aus seinem schweren schwarzen Umhang.
»Er ist eigentlich nicht krank. Er kommt mir eher erschöpft
vor«, erwiderte ich, nahm ihm das Cape ab und breitete es vor dem Feuer
zum Trocknen aus. »Er isst wenig, ein wenig Suppe und Trockenobst,
sonst nichts. Er nickt immer wieder ein, bei Tag und bei Nacht.«
»Wie sieht sein Harn aus?«, wollte Daniel wissen.
Ich holte die Flasche, die ich für die Diagnose gefüllt hatte.
Daniel trat mit ihr ans Fenster und beschaute den Inhalt bei Tageslicht.
»Ist er oben?«
»Im hinteren Schlafzimmer«, sagte ich und folgte meinem
verflossenen Ehemann die Treppe hinauf.
Ich wartete vor der Tür, während Daniel meinem Vater den Puls
fühlte und ihm die kühle Hand auf die Stirn legte und sich sanft
erkundigte, wie es ihm ging. Ich hörte ihre gedämpften Stimmen, das
Brummen männlicher Teilnahme, den Austausch von Worten, die nichts
besagten und doch alles offenlegten – eine männliche
Geheimsprache, die wir Frauen niemals verstehen können.
Dann trat Daniel mit ernstem und teilnahmsvollem Gesicht aus
dem Zimmer. Er führte mich nach unten und sprach erst, als wir im Laden
waren und die Tür zur Treppe fest geschlossen war.
»Hannah, ich kann ihn schröpfen und verarzten und auf
dutzendfache Art quälen, aber ich glaube nicht, dass
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