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Die hohe Kunst des Bankraubs: Roman (German Edition)

Die hohe Kunst des Bankraubs: Roman (German Edition)

Titel: Die hohe Kunst des Bankraubs: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Brookmyre
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So-nah-und-doch-so-fern-Gefühl war die pure Folter. Eigentlich ein Wunder, dass sie überhaupt schon drei Stunden durchgehalten hatte, aber jetzt konnte sie wirklich nicht mehr. Ihr war, als hätte ihr jemand von innen den Schädel abgeschmirgelt und dann drei Viertel der Flüssigkeit abgesaugt, die normalerweise dafür sorgte, dass ihr Gehirn nicht dauernd gegen die Wände wummerte. Schon bei winzigen Bewegungen kniff sie unwillkürlich die Augen zu, weil ihr grelle Blitze von hinter den Lidern aus durch den Kopf zuckten, und auch wenn sie mittlerweile nichts mehr im Magen hatte, was sie noch hätte kotzen können, war der nächste Würgeanfall nur eine Pommestütenduftwolke entfernt. Das war allerdings nur die chemische Seite ihrer Übelkeit, die sie normalerweise mithilfe von Brause, Ibuprofen und gut acht Stunden Mädchenfilmen auf ihrem Schlafzimmerfernseher überstehen würde. Michelles Leiden war aber viel, viel schlimmer. Ein Kater, der einen wirklich umhaute, der alle physischen Symptome verstärkte, deren Linderung aber gleichzeitig irrelevant machte – der nämlich nicht nur auf maßlosem Trinken beruhte, sondern auch auf etwas, was man dabei gesagt oder getan hatte.
    Genau.
    So ein Kater: eine ausgesprochen brutale Symbiose von Vergiftungserscheinungen und Reue, bei der sich der physische Schmerz und die emotionale Angeschlagenheit multiplizierten. Schuldgefühle mal Kopfschmerzen, Übelkeit mal Scham. Doch selbst in dieser stygischen Schicht des individuellen Leids gab es noch eine obere und eine untere Ebene. Selbst wenn einem der Geruch dereigenen Kotze in die Nase stieg, während man ganz besonders leise am Bad vorbeischlich, wusste man oft doch selbst, dass man sich in diesem geschwächten Zustand einfach viel zu viele Sorgen über das eigene Verhalten und die eigenen Aussagen machte, die doch von den anderen Säufern kaum einer mitbekommen hatte, und an die sich erst recht keiner mehr erinnerte. Diese Katerzustände klammerten sich noch an die unterste Sprosse. Darunter – weit, weit darunter, von wo man kaum noch die Leiter ausmachen konnte – befanden sich die, bei denen einem jedes Bewusstsein zum Feind wurde; bei denen in kurzen Momenten ohne Schmerz und Übelkeit die Schrecken der Nacht doch nur die Gedanken vergifteten und jede Perspektive zerstörten.
    Das Wort Reue wurde der Sache nicht gerecht. Reue spürte man, wenn das eigene Haus abgebrannt war oder wenn man Stalingrad nicht hatte einnehmen können. Es bedurfte einer Neuschöpfung, wenn man sich mit Baileys die Kante gegeben und es dem neuen Finanzberater mit der Hand gemacht hatte – nein, Michelle, die ganze Wahrheit: Wenn du ihn auch nur einmal mit den Lippen berührt hast, hast du ihm nach den gnadenlosen Gesetzen von Klatsch und Tratsch … – einen geblasen, in einem zugigen Hoteltreppenhaus.
    Warum, warum, warum, warum, warum, warum, warum …
    Es ging ihr beschissen, und sie fühlte sich einsam, und es war einfach unmenschlich, dass sie in diesem Zustand mit anderen Menschen interagieren musste – womöglich sogar mit Kunden. Sie brauchte jetzt ein zurückgezogenes Genesungswochenende, bevor sie wieder Leuten in die Augen sehen konnte, erst recht ihren Kollegen, ganz zu schweigen von ihm, Grant Kelly. Dieser ultimative Schrecken war ihr bisher glücklicherweise erspart geblieben, aber auch nur, weil er den ganzen Morgen Beratungsgespräche gehabt hatte und sie sich immer hinter dem Schreibtisch versteckt hatte, wenn er seinen nächsten Kunden aus dem Schaltersaal abgeholt hatte.
    Er war nach der Fusion von einer nahen Filiale der Great Northern dazugekommen, die wegrationalisiert worden war. Siehatten in den drei Monaten, seit er dabei war, nicht viel miteinander gesprochen, also wusste sie eigentlich nur, dass er recht freundlich wirkte, wenn auch etwas übertrieben selbstbewusst, womit er wohl seine Unsicherheit überspielen wollte. Er sah schon besser aus als die meisten anderen männlichen Kollegen, aber ihre Kolleginnen übertrieben es mit ihrer Bewunderung ein bisschen. Sie konnte aber nicht abstreiten, dass dieses Interesse ihn auch auf sie recht attraktiv wirken ließ, als sie nach dem Essen während der Neunziger-Retro-Disco plötzlich nebeneinandersaßen.
    Wie die meisten anderen Probleme im Büro lag das, was folgte, hauptsächlich an der Fusion. Nach der Ungewissheit, Unentschlossenheit, den Umwälzungen und dem allgemeinen Chaos war die Planung der Weihnachtsfeier so weit verschoben worden, dass sie nur noch

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