Die hohe Kunst des Bankraubs: Roman (German Edition)
einen Termin für den ersten Freitag im Dezember bekamen, und zu diesem Zeitpunkt war weder ihr Kopf noch ihr Körper auf die Feiertagsvöllerei eingestellt.
Sie hatte sich bei dem betrunkenen Flirt immer weiter aus dem Fenster gelehnt, sodass daraus ein Wettstreit wurde und sie einfach keinen Rückzieher mehr machen konnte. Seine Aufmerksamkeit schmeichelte ihr wohl, aber sie wollte ihm unbedingt auch Kontra geben. Er hatte eine große Klappe, also hielt sie dagegen, sein Charme und Selbstbewusstsein machten ihn attraktiv, spornten sie aber auch an, ihm Paroli zu bieten. Nach zwei Wodkas, sechs Gläsern Wein und Gott weiß wie viel von dem süßlichen irischen Alkoholschleim war ihr das ganz logisch vorgekommen. Sie hatte erwartet, dass sich seine unsichere Seite zeigen würde, dass er merken würde, dass er sich zu viel zugetraut hatte. Dabei hatte sie leider vergessen, dass Männer so etwas selten merken und schon gar nicht zugeben. Ihr alkoholgeflutetes Gehirn wollte ihr weismachen, sie sei Madame Verteille. Schade bloß, dass Laclos keine Tipps gegeben hatte, wie man Spermaflecken aus schwarzem Lycra herausbekommt.
Oh nein, oh nein, oh nein, oh nein.
Sie würde so enden wie das arme Mädchen in London, deren»Deins war lecker«-Sperma-schluck-E-Mail von ihrem Freund im Internet verbreitet worden war; die Kommunikationstechnologie des 21. Jahrhunderts machte aus dem Planeten weniger ein globales Dorf als vielmehr eine globale Schulklasse voller jungfräulich kichernder Jungs und scheinheilig hinterhältiger Mädchen.
Ihr Karma zahlte ihr jetzt wohl auf brutale, kranke Weise heim, wie sie Alasdair Young auf dem Abschlussball vor zehn Jahren behandelt hatte. Sie hätte mit ihm tanzen, knutschen und ihn irgendwann heiraten sollen. Dann wäre sie jetzt zwar dem Selbstmord nah vor Langeweile, gefangen in einer lieblosen Ehe mit mindestens drei Kindern und einer engen Doppelhaushälfte in Bishopbriggs – aber immerhin hätte sie dann auch nicht Grant Kelly auf der Feuertreppe des Central Hotels einen runtergeholt.
Michelle schaute vorsichtig auf, aber die Sanduhr auf dem Bildschirm wollte sich einfach nicht in einen Mauszeiger zurückverwandeln, und ihre Kopfschmerzen ließen nicht zu, dass sie sich mit den Statistiken beschäftigte. Die Leute in der Schlange konzentrierten sich alle auf die Kollegen an den Schaltern, und es war wohl auch für sie am besten, dass sie nicht zu ihr herüberschauten. Ihr Geisteszustand schwankte hin und her zwischen sentimentaler Anhänglichkeit und geifernder Menschenfeindlichkeit. Sollte ihr wirklich ein Kunde eine Frage stellen, standen die Wettquoten 3/1, dass sie die korrekte Antwort gab, 11/4, dass sie in Tränen ausbrach und 7/2, dass sie ihn an der Kehle packte und brüllte: »Okay, okay, ich geb’s zu, ich hab dem Finanzberater einen runtergeholt, du DUMMES ARSCHLOOOCH !«
Die Kunden sahen großartig aus: In der Schlange vor ihr stellte ein Grüppchen unabsichtlich die Evolution des Menschen in Rangers-Blau nach. »We are the people«, war deren Motto – dann wollte Michelle aber nicht dazugehören. Dahinter standen mehrere Frauen, die als logistische Unterstützung ihre gelangweilten Männer zum Shoppen mitgeschleift hatten. Diese Gruppe trennte die Rangers-Fans glücklicherweise, wenn auch höchst provisorisch, von zwei weiteren anthropologischen Anomalien in grünlicheren Tönen. Diese beiden trugen die Garngad-Winterkollektion, die demalten Gesetz der regionalen Idiotenmode folgte: je kälter, desto weniger Klamotten. In den letzten Tagen näherte sich das Quecksilber immer weiter der Null-Grad-Marke, also kam für den stilbewussten Jungkatholiken nichts infrage außer einem hauchdünnen, billig nachgemachten Celtic-Trikot. Die Rangers-Fans weiter vorne hatten sich immerhin wärmer angezogen, aber auch die würden wohl nicht bald die Modeseiten der Paris Match zieren.
Alle wirkten ruhig und zurückhaltend, aber vielleicht filterte Michelles angeschlagenes Gehirn auch alle Sinneswahrnehmungen so, dass nur das durchkam, was ihr Unbehagen und ihre Paranoia verstärkte. Denn während die Leute in der Bank anscheinend nur alle halblaut vor sich hin murmelten, drang die unfassbar nervige Saxofonmusik von draußen durch die Doppelverglasung direkt in ihren schmerzenden Schädel.
Das verdammte Straßenmusikerpack! Die Pest wünschte sie denen an den Hals. Rücksichtslose Schweine! Hatten die denn noch nie gesoffen?
Der Saxofonradau hörte schließlich auf, wurde aber
Weitere Kostenlose Bücher