Die Holzhammer-Methode
der Mittagspause würde sie sich etwas zum Anziehen kaufen, aber am Vormittag hatte sie einige Einzelgespräche, die sie unbedingt wahrnehmen musste. Leider hatte sie keine Ahnung, an welcher Adresse sie sich befand, sodass sie auf die Schnelle auch kein Taxi rufen konnte. Am Abend war sie mit Klaus mitgefahren, und ihr Auto stand immer noch in der Nähe des Nachtcafés. Der smarte Polizeichef hatte ihr bloß gesagt, sie solle die Wohnungstür einfach zuziehen, wenn sie ginge. Dann war er verschwunden, noch bevor sie sich richtig hochrappeln konnte.
Christine verließ die tadellos aufgeräumte Wohnung, die zweifellos von einer bayerischen Putzfrau auf Vierhundert-Euro-Basis gepflegt wurde, und ging in die Richtung, die ihr am ehesten ins Zentrum zu führen schien. Der weithin sichtbare Watzmann diente ihr als Wegweiser, und so fand sie nach zwanzig Minuten ihr Auto.
Normalerweise musste sie um neun Uhr in der Klinik sein, doch heute stand der erste Therapietermin zum Glück erst um zehn auf der Agenda. Die Patientin war eine sechzigjährige Frau, die sich buchstäblich für ihre Familie aufgeopfert hatte – bis zur völligen Erschöpfung.
Immer wieder staunte Christine, wie unterschiedlich belastbar die Menschen waren. Manche brachen schon zusammen, wenn das Brötchen mal auf die Marmeladenseite fiel, andere steckten einfach alles weg. Wieder andere steckten scheinbar alles weg und drehten dann von einer Sekunde zur anderen komplett durch.
Ihre Patientin an diesem Morgen war eine sehr liebenswerte, mütterliche Frau namens Mathilde Zechner. Ihre Tochter war schwer erkrankt, und Frau Zechner hatte die Pflege übernommen. Die Enkelin war gerade mal fünf Jahre alt gewesen und wurde ebenfalls von ihr mitversorgt. Dann war ihr Mann ins Krankenhaus gekommen – sie besuchte ihn täglich. Obwohl sie sich Hilfe hätte leisten können, hatte sich die Sechzigjährige ganz allein um ihre drei hilflosen Verwandten gekümmert.
Dann war ihr Mann gestorben. Nach drei weiteren Monaten der Hetzerei zwischen Krankenbett und Kindergarten hatte Frau Zechner plötzlich angefangen, Stimmen zu hören. Sie war im Nachthemd auf die Straße gerannt und hatte sich beim Überqueren der Straßenbahnschienen das Schlüsselbein gebrochen. Nachbarn fanden sie völlig orientierungslos auf und brachten sie in die Notaufnahme. Als ihr Hausarzt von der ganzen Sache Wind bekam, verordnete er ihr nach Wiederherstellung des Schlüsselbeins eine ausgiebige Reha – eigentlich eher mit dem Zweck einer allgemeinen Kur, aber Reha ging momentan bei den Krankenkassen besser durch. Für die bettlägerige Tochter wurde ein Pfleger organisiert, für die Enkelin eine Pflegefamilie.
In der Therapiestunde erzählte Frau Zechner, dass sie am Abend starke Leibschmerzen mit Erbrechen und Durchfall gehabt habe. Natürlich war sie nicht zum Stationsarzt gegangen. Sie hatte es einfach nicht gelernt, sich auch mal um sich selbst zu kümmern. Nachdem sie sich die halbe Nacht damit herumgequält hatte, waren die Schmerzen von selbst wieder verschwunden.
Christine seufzte. Seit vier Wochen versuchte sie der Frau beizubringen, sich selbst nicht immer hintanzustellen, wenigstens ansatzweise auch auf ihre eigenen Bedürfnisse zu achten. Sie hatte versucht, ihrer Patientin klarzumachen, dass ihre eigene Gesundheit genauso wichtig war wie die ihrer Angehörigen. Ja, dass sie für ihre Angehörigen überhaupt nur dann eine Stütze sein konnte, wenn sie auch auf sich selbst aufpasste. Und jetzt das.
Nicht zum ersten Mal zweifelte Christine an Sinn und Zweck der Verhaltenstherapie. Sicher, es gab auch Patienten, die brauchte man nur auf die Idee zu bringen, sich einfach mal anders zu verhalten, und schon adaptierten sie neue, zielführendere Verhaltensweisen. Aber bei vielen Patienten waren die unangemessenen Verhaltensweisen ein derart integraler Teil der Persönlichkeit geworden, dass sie gar nicht mehr in der Lage waren umzudenken. Da halfen keine noch so ausgeklügelten Interventionen. Viele Menschen konnten einfach nicht aus ihrer Haut, und Mathilde Zechner gehörte dazu. Eigentlich machte sie das ungeheuer sympathisch. Trotzdem, um der Frau zu zeigen, dass man seinen eigenen Körper unbedingt ernst nehmen müsse, gab Christine ihr auf, sich am nächsten Morgen zur Blutabnahme in der medizinischen Zentrale zu melden.
Als die Patientin gegangen war, grübelte Christine noch ein bisschen über Sinn und Unsinn ihres Berufs, dann wandte sie sich wieder ihren unmittelbaren
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