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Die Holzhammer-Methode

Die Holzhammer-Methode

Titel: Die Holzhammer-Methode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fredrika Gers
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tausend Euro, wenn man nicht im Alpenverein war. Aber manche Privatpatienten waren gegen so gut wie alles versichert. Christine beendete ihre Mahlzeit und wanderte weiter bergauf.

    Unten im Tal blickte die Gestalt von der Gartenarbeit auf. Der Hubschrauber war ein gutes Zeichen. Ja, das Tal sollte zur Todesfalle werden. Zu der Hölle, die es für sie schon war, seit sie denken konnte. Als Kind war sie völlig wehrlos gewesen. Niemand hatte ihr geholfen, und schon bald hatte sie von niemand mehr Hilfe erhofft. Für ihre überforderte Mutter war sie lästig gewesen, für ihren Vater reine Dekoration. Er mochte es, sie auf seinen Schultern durch den Ort zu tragen. Dass sie dort oben panische Angst gehabt hatte, war ihm egal gewesen. In der Öffentlichkeit gab er den guten Familienvater, doch hinter verschlossenen Türen zeigte er sein wahres Gesicht. Einmal, als das Kind merkte, dass der Vater wieder wütend war, flüchtete es in Richtung Treppe. Doch der Vater holte es ein und trat ihm von hinten in den Rücken, sodass es die steinernen Stufen hinunterstürzte.
    Damals war das Kind noch nicht einmal zur Schule gegangen. Sein einziger Zufluchtsort war der Wald gewesen. Und die Phantasie. Abends
,
allein im Bett, hatte das Kind sich vorgestellt, es könne zaubern – zaubern und bestrafen. Es verfluchte alle, die ihm nicht halfen, die wegschauten, weil es bequemer war. Sie wurden in Tiere verwandelt, in dunkle Höhlen gesperrt und qualvoll getötet. Jetzt endlich wurde der Zauber Wirklichkeit. Der ganze Talkessel wurde bestraft
.
Dafür, dass man den Vater so hofiert und das Leid des Kindes nicht beachtet hatte. Dafür, dass man sich niemals für das geschlagene Kind des großen Wohltäters interessiert hatte. Für Gier und Ignoranz.

    Christine wanderte weiter, bis sie nach über vier Stunden an einen kleinen See gelangte. Eigentlich war es eher eine größere Pfütze, man konnte an jeder Stelle auf den Grund sehen. Rundherum zog sich ein breiter, völlig unbewachsener Rand, was darauf hindeutete, dass das Seelein im Frühjahr wesentlich größer war. Klar, hier lief das Schmelzwasser von den umliegenden Hängen zusammen. Oberhalb des Wassers ragten bröselige, mit Gras durchsetzte Felsen steil empor. Nach Süden stiegen Schottermassen zu einem Sattel an. Nach Christines Karte musste der Sattel das Hochgschirr sein und der Berg links davon der Kahlersberg. Von ihrem Standort aus konnte sie sich gar nicht vorstellen, dass man dort hinaufkam. Aber ihre Karte zeigte einen Steig an.
    Im Schatten auf der gegenüberliegenden Seite des kleinen Sees lag Altschnee. Auch das Gras an den Hängen war nass und plattgedrückt, als hätte noch vor kurzem Schnee darauf gelegen. Und das mitten im Hochsommer. Aber immerhin befand sie sich bereits auf über 1800  Metern Höhe.
    Inzwischen spürte sie ihre Beine doch recht deutlich. Aber es war ein wohliges Gefühl, wie die Bestätigung, dass sie etwas geschafft hatte. Direkt am Ufer luden ein paar große Steine zum Sitzen ein. Christine zweigte vom Weg ab und ging zum See hinunter. Sie blickte sich um. In den letzten zwei Stunden waren ihr vielleicht zehn Leute entgegengekommen, doch hier war sie momentan der einzige Zweibeiner. Die Wasseroberfläche glitzerte im Sonnenschein, aber man konnte sehen, dass die Sonne selbst im Sommer nur wenige Stunden hoch genug unterwegs war, um in die Mulde zu scheinen.
    Plötzlich fiel ihr ein Tier auf, das seelenruhig über die grasdurchsetzten Felsen an der gegenüberliegenden Seite spazierte. Die einzigen Gämsen, die sie bisher gesehen hatte, befanden sich auf den Postkarten, die in der Klinik verkauft wurden und die von zufriedenen Patienten heimwärts geschickt wurden – wahrscheinlich oft mit Bemerkungen wie «So werde ich auch bald wieder laufen können». Sie hatte gehört, dass Gämsen sehr schreckhaft waren, aber diese hier ließ sich gar nicht stören. Schließlich hob sie den Kopf und sah zu Christine herüber. Das Tier trug riesige gedrehte Hörner, die fast so hoch waren wie sein ganzer Körper. Nein, das war gar keine Gämse. Das war ein Steinbock. Und er war nur mäßig an ihr interessiert.
    Christine ließ sich vorsichtig auf dem nächsten Stein nieder und holte langsam ihre Wasserflasche heraus. Der Steinbock machte immer noch keine Anstalten, die Flucht zu ergreifen, sondern sah ihr geruhsam zu. Als nichts weiter passierte, wandte er sich ab und schlenderte zum nächsten interessanten Grasbüschel. Christine hatte plötzlich das

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