Die Holzhammer-Methode
schließlich im Auto saß, sah sie noch einmal in die Wanderkarte. Anscheinend konnte man bis auf 1100 Meter Seehöhe hinauffahren und dort parken.
Sie fand die richtige Straße zum Parkplatz Hinterbrand. Damit hatte sie die ersten 400 Höhenmeter schon mal bequem zurückgelegt. Dann nahm sie den Fußweg Richtung Mittelstation, den sie sich mit zahlreichen anderen Spaziergängern teilen musste. Spaziergänger und Wanderer ließen sich anhand des Schuhwerks unterscheiden, wie Christine feststellte. Wer noch schlechter ausgerüstet war als sie selbst, fiel eindeutig in die Kategorie Spaziergänger.
Gut eine Stunde lang lief sie auf einem breiten Weg ohne spürbare Steigung. Dann verzweigte sich der Pfad mehrfach, und die Spaziergängerquote nahm erheblich ab. Die Wanderer waren jetzt in der Mehrheit. Die schnellsten unter ihnen trugen sonnengebleichte, abgewetzte Rucksäcke und schmutzige Bergschuhe. Die Langsameren hatten nagelneue Sachen in Quietschfarben.
Der Weg war immer noch breit, stieg aber plötzlich steil an. Nach zehn Minuten taten Christine die Waden weh. Sie hatte gehofft, hier einen schönen Ausblick auf den See genießen zu können, aber das war nicht der Fall. Stattdessen Wadenkrämpfe. Christine musste ihr Tempo drosseln. Schließlich blieb sie stehen und nahm einige Schlucke aus ihrer Trinkflasche. Nach einer Weile vergingen die Schmerzen in den Beinen. Wahrscheinlich waren die Muskeln jetzt warm genug, um die ungewohnte Dehnung ohne Protest hinzunehmen. Auch der Weg wurde wieder flacher und führte jetzt an einer sumpfigen Wiese vorbei. Doch dann ging es auch schon wieder bergan. Es war halb zehn, und die Sonne machte sich bereits kräftig bemerkbar. Christine fragte sich, wie das erst um die Mittagszeit werden sollte. Natürlich hatte sie bei der Auswahl der Route nicht darauf geachtet, wie sonnig der Weg wohl sein würde. Eigentlich hatte sie auf überhaupt nichts geachtet, sondern war einfach drauflosgelaufen. Aber so machte man das wohl, wenn man beim Laufen vergessen wollte.
Auch Hauptwachtmeister Holzhammer war an diesem Morgen früh aufgestanden. Am Vorabend hatte er es nicht mehr geschafft, seine Baustelle zu besuchen, und das wollte er jetzt nachholen. Normalerweise stand er erst auf, wenn seine Frau schon weg war. So kamen sie sich morgens nicht ins Gehege, und er konnte in Ruhe Kaffee trinken, ohne sich unterhalten zu müssen. Seine Frau Marie saß halbtags im Tengelmann an der Kasse – weniger des Geldes wegen, sondern weil es da nicht so fad war wie zu Hause. Mit anderen Worten, weil sie dort in einer Tour ratschen konnte. Deshalb sprang seine liebe Frau jeden Morgen freudig um halb sechs aus dem Bett, während er sich einfach noch einmal umdrehte. Natürlich liebte er sie. Aber nicht so laut und nicht so früh.
Heute Morgen jedenfalls war er mit ihr zusammen aufgestanden. Um dem «Großen Ratschangriff» zu entgehen, verzichtete er auf den Kaffee und verschwand umgehend aus dem Haus. Weit ging er jedoch nicht – sein Bauprojekt lag direkt am Ende des Gartens. Vor zwei Tagen hatte er mit seinem Sohn Andi zusammen den Betonboden gegossen. Die Grundfläche war so bemessen, dass das Gebäude gerade ohne Baugenehmigung auskam. Plus Veranda natürlich. Die überdachte Veranda war wichtig. Holzhammer kontrollierte, ob der Beton gleichmäßig trocknete. Ja, alles bestens. Nächste Woche würden Andi und er die Wände aufstellen können. Die metallenen Halter für die Eckpfeiler waren bereits in den Beton eingelassen. So klein das zukünftige Gebäude auch werden würde, er erfüllte sich damit einen langgehegten Wunsch. Es würde sein ganz persönliches Refugium werden. Hier würde er in Zukunft phantastische Feierabende verbringen – mal drinnen am Notebook, mal draußen auf der Terrasse beim Weißbier. Manchmal würde er Freunde einladen und auf der Veranda den noch zu mauernden Grill anfeuern. Viele hatten hier solche Hütten im Garten – zu groß für die Gartengeräte und zu klein, um sie zu vermieten. Es gab sogar einen lokalen Fachausdruck dafür. Dieser Ausdruck lautete: «Saufhüttn».
Zufrieden machte sich Holzhammer auf den Weg zur Dienststelle. Er hatte es nicht weit, nur wenige Minuten trennten sein Heim von seinem Arbeitsplatz. Dort angekommen zapfte er sich als Erstes einen Kaffee. Kaum hatte er sich so richtig in seinem Amtszimmer niedergelassen, da kam auch schon der erste Besuch. Es war der Penner. Holzhammer bot ihm freundlich einen Kaffee an. Der Obdachlose
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