Die Holzhammer-Methode
verdrängen. Der Versuch, den schönen Tag einfach nur zu genießen, scheiterte. Wahrscheinlich war das normal, Verdrängung wurde überbewertet. Außerdem musste sie sich ja früher oder später sowieso damit beschäftigen. Es war zu klären, wie es jetzt weitergehen sollte. Spätestens nächste Woche musste sie irgendwas wegen des Rosenheimer Hauses unternehmen. Am besten alles wegschmeißen und neu anfangen. Gab es eigentlich bei Murmeltieren so etwas wie Ehekrach? Wahrscheinlich nicht, denn wie sollte das aussehen? Den gemeinsam gebuddelten Bau verkaufen und den Zugewinn aufteilen? Wahrscheinlich würde ein Tier allein den Winter gar nicht überleben, die waren ja darauf angewiesen, sich in ihrer Höhle aneinanderzukuscheln.
Christine schraubte die Colaflasche zu, die ihr als Wasserflasche diente. Die Murmeltiere sortierten immer noch Almkräuter in leckere und sehr leckere. Plötzlich richtete das eine Tier sich auf, hockte sich auf den Hintern, streckte die Vorderbeine in die Luft und stieß den berühmten Pfiff aus. Keine halbe Sekunde später waren beide verschwunden. Während Christine sich noch fragte, was die beiden auf einmal hatten, hörte sie selbst das Rotorengeräusch. Und dann sah sie auch schon den orangeroten Hubschrauber, der an den Bergwänden entlangflog. Er flog über sie hinweg, ging niedriger und verschwand schließlich hinter einer Waldzeile, wo er wohl zur Landung ansetzte. Es musste ein Unfall passiert sein, denn der Hubschrauber war rot. Der Rettungshubschrauber Christoph 14 flog oft über das Tal und die Reha-Klinik, meistens Richtung Watzmann. Dann schauten die einheimischen Patienten immer aus dem Fenster ihres Sprechzimmers und sagten: «Da ist was passiert.» Christine bedauerte, dass die beiden Murmeltiere bei ihrem Brunch gestört worden waren. Sie stand auf und setzte sich ebenfalls wieder in Bewegung.
Der Weg wurde jetzt unebener und steiler, Christines neue Bergstiefel bewährten sich. Sie selbst war inzwischen am ganzen Körper schweißnass, aber dafür hatte sie sich an die steifen Sohlen gewöhnt und ihren Rhythmus gefunden. Sie trat sicher auf und spürte keinerlei Druckstellen. Im Gegenteil, ein Gefühl der Befriedigung machte sich breit und wuchs mit jedem Meter Höhe, den sie gewann. Bis sich schließlich ihr Magen meldete. Demnächst würde es Zeit für eine sogenannte Brotzeit werden.
Einige Minuten später fand sie einen ergonomisch günstigen Felsen und ließ sich darauf nieder. Sie hatte die weiten Almwiesen inzwischen hinter sich gelassen und befand sich in einem engen, ansteigenden Tal. Der Watzmann war ausnahmsweise nicht zu sehen. Im Talgrund lagen Steine und Felsblöcke aller Größen, dazwischen wuchsen Almrausch und Latschen, auch einige Lärchen krallten sich in den steinigen Boden. Links und rechts ragten steile Felswände in die Höhe, sodass nur ein enger Ausschnitt des blauen Himmels zu sehen war. Deshalb hörte sie auch das Brummen schon lange, bevor sie den Hubschrauber wieder sehen konnte. Unter ihm baumelte jetzt an einem langen Seil eine Trage, neben der ein Bergwachtmann in der Luft zu stehen schien. Der Hubschrauber flog direkt über ihren Sitzplatz hinweg.
Plötzlich bemerkte Christine, dass etwas von oben zu ihr herabsegelte. Es musste aus dem Hubschrauber oder von der Bahre gefallen sein. Das flatternde Ding fiel ganz in ihrer Nähe auf einen Latschenbusch. Christine hatte keine Mühe, es herunterzupflücken. Verblüfft hielt sie eine Papierserviette mit dem vertrauten Logo ihres Arbeitgebers in Händen. Diese Servietten gab es nur in ihrer Klinik. Und das konnte nur eins bedeuten: Das Unfallopfer musste entweder ein Patient oder ein Besucher sein.
Die meisten Patienten waren nicht mehr fit genug, dass sie mehrstündige Wanderungen wagen konnten – nicht einmal bergab, von der Bergstation aus. Nur solche, die wegen Burnout oder sonstiger psychosomatischer Symptome in der Klinik waren, kamen in Frage. Und genau das waren die Patienten, mit denen sie am meisten zu tun hatte. Wenn es tatsächlich ein Patient oder eine Patientin war und kein Besucher oder passionierter Papierserviettensammler, dann war es eine Person, die sie kannte. Spätestens Montag würde sie mehr wissen. Aber die Trage musste ja nichts wirklich Schlimmes bedeuten. Wahrscheinlich hatte sich nur jemand den Fuß verstaucht. Oder sich ein bisschen übernommen und dann locker per Handy die Bergwacht gerufen. Für teures Geld natürlich. Ein Hubschraubereinsatz kostete einige
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