Die Holzhammer-Methode
er eigenmächtig handelte und es kam nichts dabei raus, dann würde ein saftiger Rüffel fällig. Also würde er das Ding einfach erst mal aufbewahren. Man wusste ja nie.
In der Polizeiwache angekommen, stellte er also die Wasserflasche hinter sich ins Regal. Auch die Papierservietten landeten dort. Holzhammers Blick fiel auf die Sachen des toten Gleitschirmfliegers. Die Spurensicherung hatte alles auf der Dienststelle abgeliefert, und natürlich hatten die Kollegen nichts Besseres zu tun gehabt, als ihm das ganze Zeug ins Zimmer zu knallen. Holzhammer überlegte, ob er die Sachen freigeben konnte. Dann könnte der Freund des Toten alles für die Eltern mitnehmen. Das Gurtzeug war auch dabei. Es sah aus wie eine Art Rucksack zum Reinsetzen. Bei «Rucksack» fiel ihm etwas ein: War da nicht auch irgendwo Platz für Proviant? Er holte das Gurtzeug aus der Beweismittelhülle. Und tatsächlich gab es an der linken Seite ein Staufach. Darin fand er eine Wasserflasche sowie mehrere Müsliriegel und zwei leere Müsliriegelpapierchen. Er stellte den Proviant des Fallschirmspringers neben den der Rentnerin ins Regal. Dann fand er, es sei erst einmal Zeit, sich um sein eigenes Leibeswohl zu kümmern, und lehnte sich mit einem Becher Kaffee im Bürostuhl zurück.
Der Lorbeertee schmeckte bitter – doch die Nachrichten aus dem Radio versüßten ihn. Gerade wurde von der zweiten Leiche berichtet. Planmäßig hatte es wieder einen Feriengast getroffen. Alles funktionierte perfekt. Es hatte Monate gebraucht, um sich für einen Stoff zu entscheiden und die richtige Dosis zu finden. Aber Zeit war keine Mangelware. Es war nicht viel zu tun – außer zu hassen. Der Hass war über Jahrzehnte gewachsen, bis er alles beherrschte. Am Anfang, im Kindesalter, war da nur Hilflosigkeit gewesen. Ein verzweifeltes Kind, das ohne Liebe aufwachsen musste, das weder Gefühle noch Meinungen äußern durfte. Und das keine Liebe erfuhr, weil der Vater nur das Tal liebte. Das Tal wurde von ihm verhätschelt und gefördert, für das Fortkommen und Wohlergehen des Talkessels setzte er sich mit ganzer Kraft ein. Für das Kind aus Fleisch und Blut blieb nichts. Nichts als Wut und Gewalt. Nach dem Tod des Vaters waren Ohnmacht und Hilflosigkeit langsam, aber sicher in abgrundtiefen Hass umgeschlagen. Hass nicht mehr nur auf den Vater und die tatenlose Mutter – sondern auf alle Bewohner des Talkessels, die weggesehen hatten. Der Hass war gewachsen und gewachsen und eines Tages zur finsteren Entschlossenheit gereift. Der Regen prasselte ans Fenster – endlich. Das war gut für die Pflanzen.
Christine saß in ihrem Zimmer. Die schmutzigen Kleider hatte sie im Waschbecken ausgespült und zum Trocknen über die Heizung gehängt. Jetzt überlegte sie, was sie am nächsten Tag bloß anfangen sollte. Bei diesem Mistwetter. Am Ende würde sie noch vor lauter Langeweile in die Klinik fahren und dort Papierkram erledigen. Gegen neunzehn Uhr klopfte es an der Tür. Draußen stand die Wirtin.
«Telefon für Sie», sagte sie vorwurfsvoll. Dann drehte sie sich um und verschwand wieder im Flur.
Wer konnte das sein?, fragte sich Christine. Es wusste doch niemand, dass sie hier war. Sie folgte der Frau die Treppe hinunter. Das Telefon stand im Durchgang von der Küche zum Wohnzimmer auf einem kleinen Wandregal in Eiche rustikal. Christine nahm den Hörer auf und meldete sich: «Ja bitte?»
«Ja, hallo! Matthias hier. Hast du Lust, heute Abend mit zu Manu zu gehen?»
Christine war erleichtert. Andererseits: Wollte sie wirklich ein weiteres Mal in diese Kneipe mit der geschmacklosen Einrichtung, in der sie sich vom Polizeichef hatte verführen lassen? Aber die Alternativen waren ein Abend in ihrem Zimmer ohne vernünftiges Buch oder ein Abend im Frühstücksraum vor dem Fernseher ohne vernünftiges Programm.
Matthias war einer der ersten Gäste gewesen, als Manu vor fünfzehn Jahren ihr Nachtcafé eröffnete. Seitdem war die Kneipe für ihn und einige Bekannte zur zweiten Heimat geworden. Auch viele andere Einheimische schauten zumindest mehrmals im Monat herein. Und das lag nicht zuletzt an der Wirtin. Denn Manu war alles, was eine gute Barfrau sein musste – und noch einiges mehr. Sie war Zuhörerin, Trösterin, Beichtmutter, Schlichterin, Beziehungsberaterin, in hoffnungslosen Fällen aber auch Kupplerin, die frustrierten Eheleuten zu Abenteuern in fremden Betten verhalf. Deshalb war sie nicht überall gleichermaßen beliebt. Bei Bedarf gab sie sogar die
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