Die Holzhammer-Methode
Toten, die Holzhammer da in den Schoß gefallen waren, hatten kaum etwas gemeinsam: jung und alt, Mann und Frau, die eine Leiche ohne äußere Verletzungen, die andere – nun ja – mit ziemlich vielen. Natürlich, wenn man in 3000 Metern Höhe mitten in der Luft verstarb, holte man sich solche Verletzungen zwangsweise. Noch ein weiterer Unterschied zwischen den beiden Toten fiel ihm ein: Während sich für die erste Leiche zumindest einen Tag lang die Presse interessiert hatte, krähte kein Hahn nach der rüstigen Seniorin. Allerdings war sie auch nicht spektakulär vom Himmel gefallen, sondern still in einer Hütte verschieden.
Die einzige Gemeinsamkeit zwischen den Toten bestand bislang darin, dass beide aus unklarem Grund in ihrer Freizeit dahingeschieden waren. Und beide waren Auswärtige. Aber was hieß das schon. Touristen starben schneller mal. Von den Unfalltoten seiner Laufbahn waren sicher achtzig Prozent Gäste gewesen. Holzhammer war eigentlich niemand, der sich mit Gefühlen aufhielt. Normalerweise brauchte er das auch nicht, weil er eh schon wusste, was los war. Normalerweise gab es hier nur zwei Sorten von polizeirelevanten Ereignissen: Unfälle und sonnenklare Fälle. Doch diesmal hatte er ein ungutes Gefühl. Er versuchte, dieses Gefühl in Worte zu fassen, als er seinen Chef um die Anordnung einer Obduktion bat. Ohne Erfolg.
«Für eine Oma aus dem Kohlenpott, die sich beim Bergwandern übernimmt und dann einen Sonnenstich bekommt, setze ich noch nicht mal die Spurensicherung in Marsch. Von der Gerichtsmedizin ganz zu schweigen. Das gibt nur wieder einen Rüffel aus dem Ministerium wegen Verschwendung von Steuergeldern», sagte Fischer. «Und von einer Obduktion brauchen wir gar nicht zu reden.»
«Gut, reden wir nicht», sagte der Hauptwachtmeister und ging hinaus. Er wollte nicht diskutieren, denn er hatte ja nichts vorzuweisen. Aber irgendwas würde er unternehmen, das war klar. Dieses unangenehme Gefühl der Unklarheit musste er unbedingt aus seinem Kopf kriegen. Daher stieg er in den Streifenwagen, holte von zu Hause seine Bergschuhe und bestieg kurze Zeit später die Seilbahn Richtung Jennergipfel.
Der Angestellte, der den Fahrgästen beim Aussteigen half, hatte auch am Tag zuvor Dienst gehabt, als Mathilde Zechner ihre verhängnisvolle Wanderung begann. Holzhammer zeigte ihm das Ausweisfoto der Toten und beschrieb die Kleidung, die sie getragen hatte. Tatsächlich erinnerte sich der Mann an die ältere Frau, die allein und mit einem kleinen Kinderrucksack auf dem Rücken losmarschiert war. Sie sei ihm aufgefallen, weil sie einerseits eindeutig als Touristin erkennbar war, andererseits aber ein älteres Modell recht teurer Bergschuhe trug. Die Schuhe seien zwar alt gewesen, hätten aber wie neu ausgesehen. Als seien sie vor zwanzig Jahren im Urlaub gekauft und danach nie mehr angezogen worden. In seiner Position achte man auf solche Dinge, erklärte der Liftler. Schon, um sich die Zeit zu vertreiben.
Holzhammer machte sich daran, den letzten Fußmarsch der Mathilde Zechner nachzugehen. Zunächst wanderte er den Hauptweg hinab, den fast alle Touristen nahmen. Einheimische gingen viel lieber bergauf als bergab, weil man davon keine Knieschmerzen bekam. Aber viele Gäste hatten gar nicht genug Schmalz in den Beinen, um auch nur eine Stunde bergauf zu gehen. Die wanderten bergab und wunderten sich dann am nächsten Tag, dass sie kaum laufen konnten. In letzter Zeit war es sogar vorgekommen, dass Wanderer, die sich ein bisschen übernommen hatten, einfach die Bergwacht riefen. Da hörte für Holzhammer der Spaß auf. Aber die Bergwacht musste natürlich ausrücken, und normalerweise hörten solche Deppen nicht einmal ein böses Wort, denn die Bergwachtler hatten sich in ihrer Charta dazu verpflichtet, nicht über Gerettete zu urteilen. Unangenehm wurde es für diese Wanderspezialisten erst, wenn sie nicht im Alpenverein waren und irgendwann die Rechnung für den Einsatz kam.
Bald erreichte Holzhammer die Abzweigung, die zur Hütte führte. Sie lag an einem Seitenweg, der steiler verlief als der breite Hauptweg. Was mochte die Zechner bewogen haben, diesen Weg zu nehmen? Holzhammer sah, dass einige Gäste den Anfang des Steigs als Toilette benutzt hatten – Tempotücher lagen herum. Vielleicht war die Frau ihrer Notdurft nachgegangen, und bei der Gelegenheit hatte sie den Steig entdeckt. Oder sie hatte gehofft, es handele sich um eine Abkürzung. In jedem Fall würde Holzhammer mit
Weitere Kostenlose Bücher