Die Horde - Die Schlacht von Morthûl
Treppenhaus war klaustrophobisch schmal – man konnte nicht einmal den Arm darin ausstrecken, ohne dabei an die Wand zu stoßen. Und die Stufen waren nur wenige Zentimeter tief, was den Kletternden zwang, die Zehen immer wieder mit seinem ganzen Gewicht zu belasten. Menschen, selbst die kräftigsten und ausdauerndsten unter ihnen, hätten den Aufstieg in diesem Turm bis ganz nach oben kaum geschafft.
Für Havarren war dies nur ein weiteres Ärgernis.
Eine auf jahrelanger Erfahrung basierende Vertrautheit erlaubte es ihm, die vielen Kurven und Serpentinen der Treppe ohne einen Blick zur Seite hinter sich zu bringen. So desorientierend und verwirrend sie auch sein mochten, sie dienten nicht als zusätzliches Hindernis. Vielmehr gehorchten sie einer architektonischen Notwendigkeit, da der Turm weniger als drei Meter durchmaß. Dass er über dem höchsten Dach der Eisernen Burg mehr als dreißig Meter weit aufragte, hätte eigentlich unmöglich sein sollen.
Es war nicht die einzige Unmöglichkeit dieses Ortes.
Stufe um Stufe brachte Havarren hinter sich, und manchmal fluchte er. Es war nicht Erschöpfung, die das Feuer des Zorns in dem Zauberer schürte, sondern Ungeduld. Er hätte sich einfach zu Morthûl teleportieren können, aber nein: Der Leichenkönig ließ sich nicht von seiner Magie tragen, sondern stieg immer die Treppe hoch, wenn er sein hohes Allerheiligstes erreichen wollte, und von seinen Untergebenen erwartete er nicht weniger.
Normalerweise war eben jenen Untergebenen der Zutritt verbogen, doch Morthûl hatte Havarren zu sich gerufen. Deshalb hatte der Zauberer seine Mahlzeit zurückgelassen – verdammt, er hasste es, eine unschuldige Seele zu vergeuden! – und stieg nun die endlose Treppe hoch.
»Da bin ich, Herr«, sagte Havarren, als er oben durch die Falltür kam, und vielleicht erklang dabei in seiner Stimme mehr Ärger, als ratsam gewesen wäre. »Weshalb habt Ihr mich …« Er unterbrach sich und blinzelte überrascht.
Wie üblich bot der hohe Turm einen weiten Blick über die Insel Dendrakis: schneebedeckte und eisverkrustete Berggipfel in der einen Richtung, eine öde Felsebene in der anderen. Beides ging schließlich ins Meer der Tränen über.
Aber diesmal gab es noch andere, die beschriebene Szenerie überlagernde Bilder, und sie zeigten einen luxuriösen Raum, der viel mehr Platz beanspruchte, als ihm ein Dutzend Türme dieser Größe hätten bieten können. Wundervolle Tapisserien und uralte Kunstwerke hingen an substanzlosen Wänden. Bücherschränke standen neben samtbezogenen Sofas und Sesseln, auf einem Boden, der nicht mehr Substanz hatte als die Wände. Havarren glaubte sogar, den leicht muffigen Geruch alter Pergamente wahrzunehmen.
Morthûl saß auf einem der Sofas, diesmal in Rot und Gold gekleidet. Er hielt ein großes Buch in seinen halb verwesten Händen, aber es ließ sich nicht feststellen, ob er wirklich darin las oder darüber hinweg in die Ferne blickte.
»Ah, Havarren«, sagte das leicht flackernde Abbild des Leichenkönigs und drehte den Kopf. »Da seid Ihr ja.« Seine Stimme klang gedämpft und schien aus der Ferne zu kommen.
»Herr?«, fragte der Zauberer verwundert. »Was …? Ich meine, wo …«
»Warum kommt Ihr nicht zu mir, Havarren?« Der Leichenkönig winkte mit einer knochigen Hand.
Havarren fühlte, wie etwas Unsichtbares seinen Bewegungen kurz Widerstand leistete und dann nachgab. Der Raum wirkte plötzlich weitaus realer, und es war der Turm, der ihm weniger fest und massiv erschien, als er zu ihm zurückblickte.
Auch die Szenerie jenseits davon veränderte sich, und selbst der abgebrühte Havarren schnappte nach Luft. Er sah nicht mehr nur Dendrakis, sondern ganz Kirol Syrreth, und zwar in allen Einzelheiten. Vom Meer der Tränen bis nach Ymmeth Thewl, von den nördlichen Steppen bis zu den Schwefelbergen und darüber hinaus – jeder Teil von König Morthûls Reich lag vor ihm, wie die beste aller Karten.
»Willkommen«, sagte Morthûl schlicht.
»Wie ist das möglich?«, fragte Havarren halb erstickt.
»Was, der Anblick? Oh, es genügt, das Licht ein bisschen zu beeinflussen und …«
»Nein!« Der Zauberer spürte plötzlichen Zorn auf den großen Raum, der eigentlich gar nicht existieren konnte. »Dies alles! Wie konntet Ihr so etwas vor mir verbergen? Ich hätte etwas fühlen müssen! Ich hätte die Präsenz von etwas spüren müssen! Es ist unmöglich! Es …«
Havarrens Mund schloss sich mit einem Klacken, als der
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