Die Hornisse
Brazil zog einen Pappkarton unter seinem Schreibtisch hervor. Er hatte sich noch nicht vollständig eingerichtet, aber das gehörte auch nicht zu den Dingen, die ihn besonders reizten. Noch hatte man ihm keinen Auftrag erteilt, und einen ersten freiwilligen Bericht über seine Eindrücke in der Polizeiakademie hatte er abgeschlossen. Es machte keinen Sinn mehr, immer wieder daran herumzufeilen, und die Vorstellung, hier tatenlos herumzusitzen, war ihm unerträglich. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, alle sechs Ausgaben der Zeitung zu überfliegen. Sie hingen stets an Holzhaltern neben den Telefonbüchern. Oft las er die Mitteilungen am Schwarzen Brett oder sah in sein leeres Postfach. Fast pedantisch und bewußt langsam trug er seine Habe durch das lange Büro zu seinem Schreibtisch.
Zu seinem Arbeitsmaterial gehörte auch eine Rollkartei mit wichtigen Telefonnummern. Die Fernsehstationen waren dort festgehalten, einige Theater, die Namen von Briefmarkensammlern oder Rick Flair, die allerdings ihre Bedeutung inzwischen verloren hatten. Brazils Besitz bestand aus einer Reihe von Notizblöcken, Kugelschreibern, Bleistiften, Kopien seiner Artikel, Stadtplänen, und fast alles fand in einer Aktentasche Platz, die er bei seiner Einstellung als Sonderangebot im Kaufhaus Belk erstanden hatte. Es war ein bordeauxfarbenes Exemplar mit Messingverschlüssen, und jedesmal, wenn er es zur Hand nahm, erfüllte ihn ein gewisser Stolz. Als Einzelkind und ohne Haustiere aufgewachsen, besaß er keine Fotografien, die er auf seinem Schreibtisch hätte aufstellen können. Ihm ging durch den Kopf, daß er zu Hause anrufen und fragen könnte, ob alles in Ordnung sei. Als er nach seinem Morgenlauf geduscht und sich umgezogen hatte, hatte seine Mutter wie gewohnt schlafend auf der Couch im Wohnzimmer gelegen. Mit voller Lautstärke lief im Fernsehen eine Seifenoper, an die sie sich später nicht erinnern würde. Mrs. Brazil erlebte das Leben täglich über Channel 7, hätte jedoch über keinen einzigen Beitrag etwas sagen können. Abgesehen von der Beziehung zu ihrem Sohn war das Fernsehen ihre einzige Verbindung zu den Menschen. Eine halbe Stunde nachdem Brazil die Nachrichtenredaktion betreten hatte, schreckte ihn das Läuten des Telefons auf seinem Schreibtisch auf. Er sah sich um und griff hastig nach dem Hörer. Sein Puls ging schneller. Wer konnte denn jetzt schon wissen, daß er hier arbeitete?
»Andy Brazil«, sagte er in professionellem Tonfall. Vom anderen Ende kam ein schweres Atmen, die Stimme dieser Perversen, die ihn schon seit Monaten immer wieder belästigte. Brazil hörte zu. Sie mußte auf ihrem Bett oder einem schäbigen Sofa liegen oder wo sie es sonst wieder machte.
»Ich habe ihn in der Hand«, sagte sie lasziv mit leiser Stimme, »er gleitet rein und raus, wie der Zug einer Posaune...« Brazil ließ den Hörer auf die Gabel fallen und warf Axel einen vorwurfsvollen Blick zu. Doch der unterhielt sich gerade mit dem Restaurantkritiker. Brazil hatte nie zuvor obszöne Anrufe erhalten. Das einzige in dieser Richtung war das Angebot gewesen, das ihm einmal jemand in der Auto-Waschanlage bei Cornelius um die Ecke gemacht hatte. Sein BMW rollte gerade durch die Heißluft, als ihn ein Typ mit teigigem Gesicht und einem gelben VW Käfer fragte, ob er sich nicht zwanzig Dollar verdienen wolle.
Im ersten Moment glaubte Brazil, der Mann wolle sich von ihm den Wagen waschen lassen, weil er das mit seinem eigenen so gut machte. Doch das war ein Irrtum. Also verabreichte Brazil ihm eine Gratisdusche mit dem Hochdruckschlauch. Das Autokennzeichen dieser miesen Type hatte er sich gemerkt. Der Zettel steckte noch immer in seiner Brieftasche. Er wartete nur auf die Gelegenheit, den Kerl hinter Gitter bringen zu können. Das Angebot des Käferfahrers verstieß gegen ein altes Gesetz in North Carolina, das Verbrechen wider die Natur verfolgte. Genau erklären konnte es niemand.
Eindeutig indessen war, was der Mann als Gegenleistung für sein Geld erwartet hatte. Brazil war es absolut schleierhaft, wie man so etwas bei einem Fremden auch nur versuchen konnte. Mit den meisten Menschen, die er kannte, würde er nicht einmal aus einer Flasche trinken.
Brazil war zwar nicht naiv, doch er wußte, daß sich seine in Davidson gesammelten sexuellen Erfahrungen nicht mit denen seines damaligen Zimmergenossen messen konnten. Das letzte Semester seines Abschlußjahrs hatte er die meisten Nächte im Herrenwaschraum des Hauptgebäudes
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