Die Hornisse
>Wenn jeder Bürger nur einmal, nur eine einzige Nacht lang mit uns Streife fahren würde... «
»Ich werde es nie wieder sagen.« Es war ihr voller Ernst. Hammer beugte sich über ihren Schreibtisch, den ausgestreckten Zeigefinger auf ihre Untergebene richtend, die sie einerseits bewunderte und die sie manchmal wegen ihrer Kleinmütigkeit am liebsten gepackt und geschüttelt hätte. »Ich möchte Sie wieder draußen auf der Straße haben«, ordnete sie an. »Zusammen mit Andy Brazil. Verpassen Sie ihm eine Dosis, die er so schnell nicht vergißt.«
»Verdammt noch mal, Judy«, rief West aus. »Tun Sie mir das nicht an. Ich bin über beide Ohren damit beschäftigt, die Ermittlungsabteilung umzuorganisieren. Die Einheit für Straßenkriminalität ist völlig überlastet. Zwei meiner Captains fehlen. Goode und ich können uns mal wieder über nichts einigen.«
Hammer hörte nicht mehr hin. Sie setzte ihre Lesebrille auf und begann, eine Notiz zu überarbeiten. »Veranlassen Sie sofort alles Notwendige«, sagte sie nur noch.
Andy Brazil lief konzentriert und schnell. Er schnaufte, kontrollierte die Zeit mit seiner Casio-Uhr, ohne seine Runde auf der Bahn des Davidson College in der gleichnamigen kleinen Stadt nördlich von Charlotte zu unterbrechen. Hier war er groß geworden und mit Hilfe von Tennis- und Studienstipendien zur Schule gegangen. Sein ganzes Leben lang hatte er am College gelebt, genauer gesagt, in einem etwas verfallenen Holzhaus an der Main Street gegenüber dem Friedhof. Genau wie die Schule, die erst kürzlich die Koedukation eingeführt hatte, ging auch der Friedhof auf die Zeit vor dem Bürgerkrieg zurück.
Bis vor wenigen Jahren hatte seine Mutter in der CollegeKantine gearbeitet, und Brazil war auf dem Campus aufgewachsen und hatte immer die reichen Kids und RhodesStipendiaten dort herumlaufen sehen. Selbst als er eindeutig auf einen Studienabschluß mit dem Prädikat magna cum laude zusteuerte, hielten ihn einige seiner Mitstudenten - allen voran die Cheerleader - für einen aus der Stadt, der bei ihnen nichts zu suchen hatte. Sie ließen ihn ihre Herablassung spüren, wenn er in der Küche stand und Rührei und Maisbrei auf ihre Teller schöpfte. Irgendwie verunsicherte es sie immer wieder, wenn sie ihn mit seinen Büchern unterm Arm durch die Flure eilen sahen, weil er auf keinen Fall zu spät zum Unterricht kommen wollte.
Brazil hatte nie das Gefühl gehabt, wirklich irgendwo hinzugehören, weder in Davidson noch sonstwo. Es war, als stünde zwischen ihm und anderen Menschen so etwas wie eine gläserne Wand. So sehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht, an andere heranzukommen; und andere nicht an ihn. Eine Ausnahme machten nur Mentoren aller Art. Solange er denken konnte, hatte er seine Lehrer und Trainer geliebt, Geistliche, Sicherheitsleute vom Campus, Verwaltungsdirektoren, Ärzte und Krankenschwestern. Sie akzeptierten ihn und schätzten ihn sogar seines ungewöhnlichen Verstandes und seiner originellen Ideen wegen, ein Einzelgänger, der ihnen schüchtern nach dem Unterricht die Blätter vorlegte, auf denen er alles aufgeschrieben hatte. Zu derartigen Treffen brachte er gewöhnlich eine Limonade mit oder ein paar hausgemachte Kekse von seiner Mutter. Kurz, Brazil war der geborene Schriftsteller, der alles, was das Leben zu erzählen hatte, zu Papier brachte. Er hatte diese Berufung mit Demut und mutigen Herzens angenommen. So früh am Morgen war kaum jemand auf den Beinen, abgesehen von einer Professorengattin, deren unförmige Gestalt nur ein Leben nach dem Tode noch verändern würde, und zwei anderen Frauen in sackartigen Sweatshirts. Schnaubend klagten sie einander ihr Leid über ihre Ehemänner, die es ihnen doch erst ermöglichten, zu einer Zeit zu joggen, in der die meisten anderen Menschen arbeiten mußten. Brazil trug ein T-Shirt und Shorts mit dem Werbeaufdruck des Charlotte Observer und wirkte jünger als zweiundzwanzig. Er war ein gutaussehender junger Mann mit entschlossenem Blick und hohen Wangenknochen. Das blonde Haar war von hellen Strähnen durchzogen, der Körper straff und wunderbar athletisch. Er schien sich der Wirkung seines Anblicks auf seine Umgebung nicht bewußt zu sein, oder es interessierte ihn nicht. Seine Aufmerksamkeit galt meistens ganz anderen Dingen.
Seit Brazil schreiben konnte, schrieb er. Nach seinem Abschluß am Davidson College hatte er dem Herausgeber des Observer, Richard Panesa, versichert, seine Zeitung würde es nicht bereuen,
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