Die Hornisse
Frau konnte jetzt ein wenig zur Ruhe kommen. Sie war in Sicherheit.
»Die beiden sind wir wohl los«, kommentierte Brazil stolz.
»Sie wollte ihm nur Angst einjagen. Das macht sie einmal pro Woche«, gab West zurück. »Noch bevor wir um die Ecke sind, sind sie wieder zusammen.«
Sie ließ den Motor an und sah Rosas Freund im Rückspiegel. Mit seinen Habseligkeiten unter dem Arm stand er auf dem Bürgersteig und wartete darauf, daß der blaue Crown Victoria verschwand. »Irgendwann wird er sie wahrscheinlich umbringen«, fügte West hinzu.
Sie haßte diese familiären Auseinandersetzungen. Neben Fällen von bissigen Hunden waren es die für die Polizei am wenigsten vorhersehbaren und gefährlichsten Einsätze. Die Bürger riefen die Polizei, und nahmen es ihr übel, wenn sie eingriff. Was da ablief, war alles sehr irrational. Das Schlimmste bei Menschen wie Rosa und ihren Freunden war ihre gegenseitige Abhängigkeit. Sie konnten nicht ohne den anderen sein, wie oft die Partner auch Messer oder Schußwaffen gegen sie zücken mochten, sie prügelten, bestahlen und sonstwie bedrohten. Es fiel West schwer, mit Menschen umzugehen, die sich in kaputten Verhältnissen quasi suhlten, von einer Abhängigkeit in die nächste gerieten, nie dazulernten und nicht aufhörten, sich selbst und anderen wehzutun. Sie war der Meinung, daß Brazil nicht länger bei seiner Mutter wohnen sollte.
»Warum suchen Sie sich nicht endlich eine eigene Wohnung und sind mal ein bißchen für sich?« fragte sie ihn.
»Kann ich mir nicht leisten.« Brazil tippte in das MDT.
»Natürlich können Sie.«
»Nein, kann ich nicht.« Er tippte weiter. »Ein Zwei-ZimmerApartment in einer akzeptablen Gegend kostet an die fünfhundert im Monat.«
»Na und?« West sah ihn an. »Ihr Wagen ist doch bezahlt, oder? Schulden Sie Davidson noch Geld?« Das ging sie überhaupt nichts an.
»Sie könnten es sich leisten«, insistierte West. »Sie leben in einer kranken Beziehung. Wenn Sie nicht von ihr wegkommen, werden Sie zusammen alt werden.«
»Ach ja?« Brazil sah West an. Ihre Bemerkungen gefielen ihm ganz und gar nicht. »Sie wissen wohl sehr genau Bescheid, was?«
»Ich fürchte, ja«, meinte West. »Falls Sie es noch nicht bemerkt haben, Andy, Sie sind nicht der erste Mensch auf der Welt, der mit einem Elternteil oder Ehegatten in einem Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit lebt. Ihre Mutter hat ihre krankhafte Selbstzerstörung selbst gewählt. Und damit erfüllt sie gleichzeitig eine wichtige Funktion. So übt sie nämlich Macht über ihren Sohn aus. Sie will nicht, daß Sie gehen, und wie man sieht, hat sie das bisher ja auch erreicht.«
Das war auch Hammers Problem, allerdings mußte sie dem erst noch richtig ins Auge blicken. Auch Seth war ein seelischer Krüppel. Als seine vitale, gutaussehende Frau mit ihrer Auszeichnung in der Hand hereinstürmte - es war früher Morgen -, zappte er gerade durch Hunderte von Kabelkanälen, deren Empfang eine Satellitenschüssel mit fünfundvierzig Zentimetern Durchmesser auf der rückwärtigen Veranda möglich machte. Seth liebte Country- und Westernmusik und suchte gerade nach seiner Lieblingsband. Es stimmte nicht, daß er an seiner Grabstein-Pizza aß. Das war schon gegen Mitternacht gewesen, als seine Frau noch immer nicht nach Hause gekommen war. Jetzt arbeitete er sich durch eine Riesenschüssel Popcorn, in Butter getränkt, die er in der Mikrowelle geschmolzen hatte.
Seth Bridges war nie mit einem besonders guten Aussehen gesegnet gewesen, und es war auch nicht physische Schönheit, die ihn für Judy Hammer vor langer Zeit in Little Rock so anziehend gemacht hatte. Sie hatte seine Intelligenz, seinen Sanftmut und seine Geduld geliebt. Sie hatten auf freundschaftlicher Basis begonnen, wie das jeder täte, der seine fünf Sinne beisammen hätte. Das Problem hatte mit Seths Entwicklungsfähigkeit zu tun. In den ersten zehn Jahren war Seth mit seiner Frau gewachsen, dann hatte er seine Grenzen erreicht. Er war nicht mehr in der Lage, als intellektueller Partner, der stets die großen Zusammenhänge im Auge hatte, mit ihr mitzuhalten. Seine Expansionsmöglichkeiten beschränkten sich von da an aufs Körperliche. Essen war zu seiner herausragendsten Qualität geworden.
Hammer schloß die Haustür ab und schaltete die Alarmanlage wieder ein, aber noch nicht die Bewegungsmelder. Im Haus roch es wie im Kino, also nach Popcorn, allerdings mischte sich ein verräterischer Hauch von Peperoni unter die
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