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Die Hornisse

Die Hornisse

Titel: Die Hornisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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nebenan.«
    Was ist nur mit dieser Welt los? Ungläubig erinnerte sich Martin an seine Kindheit in Rock Hill, South Carolina. Damals hatte niemand seine Tür verschlossen, und es galt schon als schwerer Diebstahl, wenn jemand beim Stibitzen eines Dauerlutschers erwischt wurde. Der bekam den Arsch voll, und das war das Ende vom Lied. Heutzutage war auf nichts mehr Verlaß. Irgendwer kam daher und zertrümmerte seinen neuen Caprice, nur wegen so ein paar Rabattmarken in einer roten Stoffhülle mit Kunstlederverschluß, die wie eine Brieftasche aussah.
    Zufällig sah Brazil einen Schwarzen in grünen Shorts einen Block entfernt in der Dunkelheit des alten Siedlerfriedhofs verschwinden. »Da ist er!« rief Brazil laut. »Sie gehen ans Funkgerät!« befahl West.
    Sie spurtete instinktiv los, doch dieser Spurt stellte sehr schnell bloß, was sie mittlerweile war: eine aus der Form geratene Raucherin mittleren Alters, die obendrein nicht die Finger von Bojangle's-Futter lassen konnte. Sie war bereits außer Atem, als sie noch mindestens dreihundert Meter von dem Verdächtigen entfernt war. Ihre Beine wurden schwer, und sie schwitzte. Ihr Körper, erst gar nicht mit dem gewichtigen Sam Browne-Koppel belastet, war für derartige Aktivitäten nicht mehr geschaffen. Der Bastard trug kein Hemd. Seine Muskeln spielten unter der glänzenden ebenholzfarbenen Haut. Er bewegte sich geschmeidig wie ein Luchs. Was, in Teufels Namen, hatte sie in die Situation gebracht, so jemanden fassen zu müssen? Sie hatte keine Chance. Normalerweise waren Typen wie der doch nicht so fit. Schließlich tranken sie nicht regelmäßig ihre Powerdrinks, und auch Fitneßclubs waren im Gefängnis eher die Ausnahme. Gedanken wie diese schossen ihr durch den Kopf, als Brazil wie ein Olympionike an ihr vorbeiflog und Grünhose kurz hinter dem Friedhofseingang eingeholt hatte. Er stürzte sich auf den Kerl. Dessen Rückenmuskeln bildeten ein massives V. Grünhose hatte nicht ein Gramm Fett zuviel und war gerannt, als sei der Leibhaftige hinter ihm her. Er hatte gehofft, mit dem gestohlenen Rabattmarkenheft davonzukommen, doch Brazil versetzte ihm von hinten einen so heftigen Stoß, daß er der Länge nach ins Gras fiel. Die Rabattmarken flatterten davon. Brazil war mit einem Satz auf seinem Rücken und drückte ihm das Knie in die Wirbelsäule. Außerdem drückte etwas, das sich wie eine Waffe anfühlte gegen Grünhoses Schläfe.
    Es war zwar nur Brazils Stablampe, aber das konnte er ja nicht wissen.
    »Keine Bewegung, oder ich puste dir das Hirn weg, Scheißkerl!« schrie Brazil.
    Stolz sah er auf. Schwitzend und keuchend hatte West sie eingeholt. Er war sicher, sie war einem Herzinfarkt nahe. »Diesmal habe ich gewonnen«, verkündete er. Es gelang ihr, die Handschellen hinten vom Gürtel zu lösen. Wann hatte sie die eigentlich das letzte Mal gebraucht? Vor Ewigkeiten als Sergeant nach der Verfolgung eines Transvestiten in Fourth Ward oder gerade erst im Fat Man's? Sie war benommen, und ihr Puls raste. Er pochte im Hals und rauschte in den Ohren. Seit ihrem fünfunddreißigsten Lebensjahr mußte es mit ihr bergab gegangen sein. Damals hatte sich Niles eines Samstags zufällig auf der Schwelle ihrer Hintertür niedergelassen. Abessinierkatzen waren ziemlich teure Exoten. Sie waren schwierig und exzentrisch, und vielleicht war das der Grund, warum die Vorbesitzer Niles zur Adoption freigegeben hatten. Auch für West gab es Augenblicke, da hätte sie ihn am liebsten auf einem vielbefahrenen Highway aus dem Wagen geschubst. Warum sich dieses schielende Katerchen, dessen Gene aus Pyramidenzeiten stammten, ausgerechnet West als neue Herrin auserkoren hatte, war ihr bis heute ein Rätsel.
    Der Streß, den Niles als neues Familienmitglied mit ins Haus brachte, verstärkte bei West nur eine ererbte Neigung zur Selbstzerstörung und hatte nichts mit der zunehmenden Isolation zu tun, die ihr Aufstieg in eine Männerwelt nach sich zog. Ihr steigender Zigarettenkonsum und die zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber Fett und Bier als täglichen Nahrungsmitteln waren aber nicht die Folge der Trennung von Jimmy Dinkins. Er war allergisch gegen Niles gewesen und hatte ihn in einem Ausmaß gehaßt, daß er eines Abends bei einem Streit mit West sogar mit seiner Waffe auf ihn zielte. Da hatte Niles es nicht mehr ausgehalten und sich vom Kühlschrank herunter auf Dinkins gestürzt.
    Als sie ihren Gefangenen zum Wagen führten, schwitzte West noch immer. Ihr Atem ging schwer,

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