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Die Hornisse

Die Hornisse

Titel: Die Hornisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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ihren in den Freitod gefahrenen Insassen erst nach dem Winterfrost oder nach heftigen Regenfällen freigegeben hatte.
    Selbst Hammer hatte sich trotz aller persönlichen Probleme und Sorgen mehrere Male bei West gemeldet, so sehr beunruhigte sie das spurlose Verschwinden ihres Volunteers. Ihr Wochenende fand praktisch im Krankenhaus statt. Seth versank immer weiter in die Dämmerung, und so hatte sie ihre Söhne alarmiert. Als seine Frau sein Zimmer betrat, sah Seth sie dumpf an. Er sagte kein Wort. Zu vollständigen Gedankengängen war er nicht mehr fähig. Er dachte nur noch in Fragmenten, zusammengesetzt aus Erinnerungen und unausgesprochenen Gefühlen. Wäre er in der Lage gewesen, sie in Worte zu fassen, hätte er mit ihnen vielleicht einiges erklären können. Aber er war zu schwach, zu betäubt von schmerzstillenden Mitteln und an zu viele Schläuche angeschlossen. In den seltenen lichten Momenten - von den Tagen seines Hierseins hatte er schon keine Vorstellung mehr - hätte er Hammer vielleicht genügend Anhaltspunkte dafür geben können, was in ihm vorging. Doch immer wieder warfen ihn die Schmerzen zurück. Sie behielten die Oberhand. Durch einen Tränenschleier sah er die einzige Frau, die er je geliebt hatte. Er war unendlich müde. Es tat ihm so leid. Er hatte genug Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Es tut mir leid, Judy. Seit du mich kennst, konnte ich nichts mehr dagegen tun. Lies meine Gedanken, Judy. Sagen kann ich sie dir nicht. Ich bin so erschöpft. Immer wieder schneiden sie an mir herum, und ich weiß nicht, was noch übrig ist. Ich bin dir eine Strafe, weil ich dir nicht wiedergeben konnte, was du für mich getan hast, für mich gewesen bist. Das ist mir zu spät bewußt geworden. Ich wollte dir etwas bedeuten. Schau, was daraus geworden ist. Wessen Schuld ist es nun? Nicht deine. Ich wünschte, du würdest meine Hand halten.
    Hammer saß im selben Stuhl wie immer und sah den Mann an, mit dem sie sechsundzwanzig Jahre verheiratet war. Seine Hände waren festgebunden, damit er sich nicht den Luftröhrenkatheter herauszog. Er lag auf der Seite. Seine Gesichtsfarbe wirkte unerwartet gesund, doch dafür war nicht er selbst verantwortlich, sondern die künstliche Sauerstoffzufuhr. Wenn das keine Ironie des Schicksals war! Hammers Stärke und Unabhängigkeit hatten Seth angezogen. Später hatte er sie dafür gehaßt, daß sie so war, wie sie war. Sie hätte gern seine Hand genommen, aber die war so zerbrechlich und zudem fixiert und voller Schläuche, Verbände und Pflaster. Hammer beugte sich zu ihm und legte ihm die Hand auf den Unterarm. Er blinzelte und sah sie aus müden, wäßrigen Augen an. Bestimmt spürte er im Unterbewußtsein ihre Gegenwart. Ob er sonst noch etwas wahrnahm? Skalpell und Bakterien hatten sein Gesäß zerstört. Mittlerweile wurde das zerfressene Gewebe an Bauch und Hüften scheibenweise abgetragen. Der Geruch war unerträglich, doch Hammer nahm ihn nicht mehr wirklich wahr. »Seth«, sagte sie in ruhigem, aber bestimmendem Ton. »Ich weiß, du hörst mich vielleicht nicht. Aber auch auf die noch so geringe Wahrscheinlichkeit hin, daß du mich doch verstehst, möchte ich dir ein paar Dinge sagen. Deine Söhne sind auf dem Weg hierher. Sie kommen heute am späten Nachmittag an und machen sich sofort auf den Weg zum Krankenhaus. Es geht ihnen gut. Ich werde die ganze Zeit hierbleiben. Wir alle sind sehr traurig und krank vor Sorge um dich.«
    Er blinzelte und sah sie an. Bewegungslos atmete er den Sauerstoff ein. Monitore überwachten Blutdruck und Puls. »Du hast mir immer etwas bedeutet«, fuhr sie fort. »Ich habe dich immer geliebt, auf meine Weise. Aber ich habe vor langer Zeit erkannt, daß du dich zu mir hingezogen fühltest und gleichzeitig einen anderen Menschen aus mir machen wolltest. Ich wiederum war von dir angezogen, weil ich glaubte, du würdest so bleiben, wie du warst. Ziemlich dumm von mir, wie ich jetzt, rückblickend, weiß.« Sie hielt inne. Ihr Herz machte unruhige Sprünge, als sie in seine starren Augen sah. »Es gibt Dinge, die ich besser oder wenigstens anders hätte machen können. Ich muß dir vergeben, und ich muß mir selbst vergeben. Du mußt mir vergeben, und du mußt dir selbst vergeben.«
    Dagegen gab es für ihn nichts zu sagen, und er wünschte, er könnte ihr irgendwie verständlich machen, was er dachte und fühlte. Doch er hatte keine Kraft mehr. Sein Gehirn arbeitete noch, aber nichts passierte. Und all das, weil er im Bett gelegen,

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