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Die Hornisse

Die Hornisse

Titel: Die Hornisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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Mehr als einmal hatte sie ihn ermahnt, wie wenig elegant es sei, so die Temperatur eines Getränks zu prüfen. Bei den ersten drei Anrufen war sofort wieder aufgelegt worden.
    »He«, begann der vierte. »Hier ist Axel. Habe Karten für Bruce Hornsby...«
    West drückte einen Knopf und sprang zum nächsten Anruf. »Andy? Hier ist Packer. Rufen Sie mich zurück.« Beim nächsten Knopfdruck hörte sie die eigene Stimme. Sie suchte ihn. Bei den beiden letzten Anrufen meldete sich wieder niemand. West nahm sich als Cop das Recht, nun auch den Schrank zu öffnen und erschrak. Er war leer. Auch die Schubladen waren leer. Bücher und Computer hatte er zurückgelassen, was sie noch mehr bestürzte. Schließlich gehörten diese Dinge für ihn zum Wichtigsten überhaupt. Er würde sie nur dann zurücklassen, wenn er sich auf eine schicksalsschwere Reise begäbe. Eine Reise ohne Wiederkehr? West sah unter das Bett, hob die Matratze an und suchte jeden Zentimeter von Brazils privatem Reich nach der Pistole ab, die er sich von ihr ausgeliehen hatte. Ohne Erfolg.
    Fast die ganze Nacht fuhr sie durch die Stadt. Immer wieder mußte sie sich den Schweiß aus dem Gesicht wischen. Sie nahm Motrin, stellte die Klimaanlage mal ab, dann wieder an, je nachdem, ob ihr heiß oder kalt war. Auf der South College Street fuhr sie langsam an den Straßenmädchen und Strichern vorüber. Jeden einzelnen sah sie sich so genau an, als könne sich Brazil hinter einer dieser Gestalten verbergen. West erkannte Poison, die junge Nutte von Mungos Videoband. Rauchend schlenderte sie den Bürgersteig auf und ab und genoß die Beachtung, die sie fand. Dennoch folgte ihr glasiger Blick gehetzt dem dunkelblauen Polizeiwagen. West sah zurück und dachte an Brazil und sein trauriges Interesse für die Menschen der Straße, für ihre Laster und für die Gründe, die sie zu dieser Existenz geführt hatten.
    Es ist ihre Entscheidung, hatte West immer wieder gesagt, und das war auch so.
    Aber sie beneidete Brazil um seinen jugendlich unverdorbenen Blick auf diese Welt. Im Grunde glich seine Sichtweise ihrer eigenen, doch bei ihm war sie aus Verletzlichkeit geboren und nicht aus Erfahrung. Diese Erfahrung unterdrückte manchmal Wests Mitgefühl und begrub ihre Empfindungen unter vielen verhärteten Schichten. Ihre Sicht der Dinge hatte sich über eine lange Zeitspanne entwickelt und ließ sich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr revidieren. Irgendwann hatte man einen Punkt erreicht, an dem man die Welt kannte und es keine Umkehr mehr gab. Sie hatte Schlimmstes erfahren, war geschlagen und angeschossen worden und hatte selbst getötet. Sie hatte eine Grenze überschritten. Und sie hatte eine Mission. Die schönen Seiten des Lebens waren anderen bestimmt.
    Auf der Tryon Street mußte sie an einer Ampel halten. Von hier war es nicht mehr weit zu Jake's. Auch hier gab es ein gutes Frühstück. Thelma war eine Künstlerin, was gebratene Steaks anging. Auch die Toasts und der Kaffee waren gut. West sah die Straße hinunter. Ein paar Blocks weiter entdeckte sie direkt hinter der First Union Bank, an deren Seitenfront eine riesige grellbunte Hornisse prangte, den kantigen Umriß eines dunklen Wagens mit konischen Rückleuchten. Zwar konnte sie aus dieser Entfernung das Nummernschild noch nicht erkennen, aber das ließ sich ändern. Die Ampel sprang auf Grün, und West trat das Gaspedal durch. Da ihr Ford einen starken Motor hatte, klebte sie schon bald an der Stoßstange des alten BMW. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie das Kennzeichen erkannte. Sie hupte und gestikulierte, doch Brazil fuhr weiter. West folgte ihm, hupte wieder, diesmal länger. Doch offensichtlich hatte er nicht die Absicht, sie zur Kenntnis zu nehmen. Also hängte sie sich an ihn und folgte ihm quer durch die Innenstadt. Brazil wußte, wer ihn verfolgte, doch es ließ ihn kalt. Er nahm einen großen Schluck aus einer Maxidose Budweiser, die er sich zwischen die Knie geklemmt hatte. Damit verstieß er direkt vor den Augen von Deputy Chief West gegen das Gesetz, und es war ihm scheißegal.
    »Verdammter Mistkerl«, knurrte West und schaltete das Blaulicht ein.
    Brazil gab Gas. West konnte nicht fassen, was da geschah. Wie konnte er nur so etwas Idiotisches tun?
    »Du hast sie nicht mehr alle!« Sie schaltete die Sirene zu. Brazil hatte zwar schon an Verfolgungsjagden teilgenommen, aber vorneweg gefahren war er noch nie. Normalerweise saß er neben West und jagte die anderen. Er nahm noch einen

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