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Die Hornisse

Die Hornisse

Titel: Die Hornisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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zuviel getrunken und mit einer Waffe herumgespielt hatte, um sie zu bestrafen. »Wir machen einen neuen Anfang«, sagte Chief Judy Hammer und blinzelte die aufsteigenden Tränen fort. »Okay, Seth? Wir lassen das hier hinter uns und lernen daraus. Laß uns nach vorn sehen.« Das Sprechen fiel ihr schwer.
    »Warum wir geheiratet haben, ist nicht mehr so wichtig. Wir sind Freunde, Kameraden. Wir sind nicht nur auf der Welt, um uns fortzupflanzen oder immer nur als Sexualobjekte zu betrachten. Wir sind da, um einander beim Älterwerden zu helfen und das Gefühl zu geben, nicht allein zu sein. Freunde.« Ihre Hand umklammerte seinen Arm.
    Tränen quollen aus Seths Augen. Es war seine einzige Reaktion, und sie brachte seine Frau aus der Fassung. Hammer weinte eine halbe Stunde lang, während seine Lebenszeichen immer schwächer wurden. Die A-Streptokokken vergifteten ihn. Kein Antibiotikum, keine Immunglobuline oder Vitamine konnten sie aufhalten, soviel davon man auch in den aufgedunsenen Körper ihres Wirts pumpte. Seine Krankheit hatte nicht mehr als einen kümmerlichen Rest von ihm übriggelassen. Ein Stück verwesendes Fleisch, aus dem das Leben floh.
    Als Randy und Jude um Viertel vor sechs das Krankenzimmer ihres Vaters betraten, war er nicht bei Bewußtsein. Wahrscheinlich merkte er gar nicht, daß sie an seinem Bett standen. Aber das Wissen, daß sie kamen, hatte schon gereicht.
    West fuhr am Cadillac Grill und an Jazzbone's Billardhalle vorbei. Schließlich machte sie sich auf den Weg nach Davidson. Vielleicht versteckte Brazil sich ja zu Hause und ging nicht ans Telefon. Sie bog in die ausgefahrene Auffahrt und stellte enttäuscht fest, daß nur der schäbige Cadillac da war. West stieg aus ihrem Dienstwagen. Unkraut wucherte in den Rissen des Backsteinpflasters. Immer wieder klingelte und klopfte sie an der Haustür. Frustriert schlug sie schließlich heftig mit ihrem Schlagstock gegen die Tür. »Polizei!« rief sie laut. »Öffnen Sie!«
    Sie mußte es mehrmals wiederholen, bis sich schließlich die Tür öffnete und Mrs. Brazil mit trübem Blick herausstaunte. Sie mußte sich am Türrahmen festhalten. »Wo ist Andy?« fragte West.
    »Hab' ihn nicht gesehen.« Mrs. Brazil preßte sich die Hand an die Stirn und blinzelte, als mache die Welt da draußen sie krank. »Bei der Arbeit, nehme ich an«, murmelte sie.
    »Nein, ist er nicht. Seit Donnerstag nicht mehr«, sagte West. »Sind Sie sicher, daß er nicht angerufen oder sich sonstwie gemeldet hat?«
    »Ich hab' geschlafen.«
    »Was ist mit dem Anrufbeantworter? Haben Sie den abgehört?« fragte West.
    »Er schließt sein Zimmer immer ab.« Mrs. Brazil wollte zu ihrer Couch zurück. »Ich kann da nicht rein.«
    Zwar hatte West den Gurt mit dem Werkzeug nicht dabei, aber auch so kam sie überall rein. Sie schraubte den Knauf von seiner Tür ab und stand nach wenigen Minuten in Brazils Zimmer. Mrs. Brazil war ins Wohnzimmer zurückgekehrt und ließ ihren aufgedunsenen, giftgeschwängerten Körper wieder auf die Couch sinken. Sie wollte das Zimmer ihres Sohnes nicht betreten. Es wäre ihm ohnehin nicht recht gewesen. Deshalb hatte er sie seit Jahren auch ausgesperrt, seit dem Tag, als er ihr vorgeworfen hatte, Geld aus seiner Brieftasche gestohlen zu haben, die er unter den Socken versteckt hatte. Auch hatte er ihr vorgehalten, sie habe in seinen Schulsachen herumgewühlt. Eine Tennistrophäe sollte sie vom Regal gestoßen haben, die er im Einzel bei den Jugendmeisterschaften gewonnen hatte. Dabei hatte sie ein paar Dellen abbekommen, und die kleine Tennisspielerfigur an der Spitze war abgebrochen.
    Am Anrufbeantworter neben dem ordentlich gemachten schmalen Bett mit dem schlichten grünen Überwurf blinkte das rote Lämpchen. West drückte auf Wiedergabe und musterte die Regale mit den vielen Messing- und Silbertrophäen. An der Wand hingen mehre Auszeichnungen für schulische und künstlerische Leistungen. Brazil hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie zu rahmen, sondern sie einfach mit Reißzwecken befestigt. Unter einem Stuhl stand einsam ein Paar abgetragener lederner Nike-Tennisschuhe mit abgeschabten Spitzen. Der Anblick der Schuhe - einer stand aufrecht, der andere lag auf der Seite - stimmte West traurig. Sorge und Unruhe nahmen zu. Sie dachte an die Art, wie er sie mit seinen unergründlichen blauen Augen ansah. Sie hörte seine Stimme, wie sie über Funk geklungen hatte, und erinnerte sich an seine Eigenart, den Kaffee mit der Zungenspitze zu testen.

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