Die Hornisse
Schluck Bier, das er im 76 Truck Stop direkt an der Abfahrt der Sunset Road East gekauft hatte. Doch jetzt war die Dose leer, und für Nachschub mußte er nur von der Trade Street auf die I-77 abbiegen und zum Truck Stop zurückfahren. Er warf die leere Dose nach hinten, wo ein paar andere über den Boden rollten und schepperten. Der defekte Tacho ließ ihn in dem Glauben, daß er exakt fünfzig Stundenkilometer einhielt.
In Wirklichkeit zog er mit fast doppelter Geschwindigkeit auf die Interstate. West blieb ihm hartnäckig auf den Fersen. Ihre Sorge und ihr Ärger wuchsen. Wenn sie jetzt Verstärkung anforderte, wäre Brazil ruiniert. Seine Tage als Volunteer wären gezählt, und nicht nur das. Und wer garantierte ihr, daß eine größere Zahl Cops ihn aufhalten konnte? Ebensogut konnten sie ihn noch mehr aus der Fassung bringen. Vielleicht würde ihn eine größere Verfolgung nur zur Verzweiflung treiben, und wo das enden konnte, war West bewußt. Sie hatte solche Finale schon auf vielen Straßen erlebt: verbeulte Autos, messerscharfe Metall- und Glassplitter, Öl, Blut und am Ende schwarze Plastiksäcke auf dem Weg zum Leichenschauhaus. Er war jetzt auf einhundertvierzig. Sie blieb mit Blaulicht und Sirene hinter ihm. So benebelt er auch war, registrierte er doch, daß sie offenbar nicht über Funk Verstärkung angefordert hatte. Das hätte er erstens über sein Polizeifunkgerät mitbekommen, und zweitens wären inzwischen andere Streifenwagen aufgetaucht. Er wußte nur nicht, ob er das positiv für sich werten sollte oder negativ. Vielleicht nahm sie ihn einfach nicht ernst. Niemand nahm ihn ernst. Und das würde auch immer so bleiben, wegen Webb und wegen der Ungerechtigkeit und der Herzlosigkeit des Lebens überhaupt und wegen allen, die daran teilhatten.
Brazil schoß in die Ausfahrt Sunset Road East und bremste ab. Er war am Ende. Genaugenommen ging ihm das Benzin aus. Aber diese Jagd konnte ohnehin nicht ewig weitergehen. Warum dann nicht ebensogut anhalten. Niedergeschlagen saß er in seinem Sitz. Er war am Rand des asphaltierten Parkplatzes stehengeblieben, weit entfernt von den Trucks, diesen langen Vier- und Fünfachsern mit ihren bunten, chromglänzenden Fahrerkabinen. Er schaltete den Motor aus, lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück und erwartete seine Strafe. West würde ihm gegenüber wohl kaum Milde walten lassen. Mit ihrer Uniform und der Waffe im Halfter war sie in allererster Linie Polizistin, und eine harte und strenge obendrein. Es spielte keine Rolle, daß sie zusammen Streife gefahren waren, zu Schießübungen waren und sich über dieses und jenes unterhalten hatten. »Andy.« Sie klopfte laut an sein Fenster. »Steigen Sie aus«, befahl sie, als hätte sie einen ganz gewöhnlichen Verkehrsrowdy vor sich. Müde kletterte er aus dem Wagen, der seinem Vater Drew so viel bedeutet hatte. Brazil hatte auch die Jacke seines Vaters an, zog sie nun aus und warf sie auf den Rücksitz. Draußen war es warm, fast 27°.
Stechmücken und Nachtfalter tanzten im Licht der Natriumdampflampen. Brazil war schweißgebadet. Er steckte die Schlüssel in die Tasche seiner engen Jeans, die nach Mungos Meinung auf seine kriminellen Neigungen hinwiesen. West leuchtete mit ihrer Stablampe durch das hintere Fenster seines Wagens und zählte auf der Fußmatte elf große Aluminiumdosen.
»Haben Sie die alle heute abend getrunken?« Sie schlug die Fahrertür zu.
»Nein. «
»Wie viele waren es heute?«
»Ich habe sie nicht gezählt.« Unbewegt und trotzig sah er ihr in die Augen.
»Ignorieren Sie immer Blaulicht und Polizeisirene?« fragte sie zornig. »Oder ist das heute aus irgendeinem Grund eine besondere Nacht?«
Er öffnete die rückwärtige Tür seines BMW und griff wütend nach einem T-Shirt. Kommentarlos schälte er sich aus seinem nassen Polohemd und zog das trockene Hemd über. West hatte ihn noch nie halbnackt gesehen.
»Ich müßte Sie eigentlich einsperren«, sagte sie mit nicht mehr ganz soviel Autorität. »Nur zu«, sagte er.
Randy und Jude Hammer waren im Abstand von fünfundvierzig Minuten am Charlotte-Douglas International Airport gelandet, und ihre Mutter erwartete sie unten an der Gepäckausgabe. Bedrückt und in Gedanken versunken, fuhren die drei direkt zum Carolinas Medical Center. Hammer war überglücklich, ihre Söhne wiederzusehen. Alte Erinnerungen tauchten auf. Randy und Jude hatten die gute Figur und die geraden weißen Zähne ihrer Mutter geerbt, zudem deren
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