Die Hornisse
Aber du mußt versuchen, etwas Nachsicht mit mir zu haben. Ich bin den lieben langen Tag da draußen.« West deutete aus dem Fenster. »Und du? Du bist hier. Das hier ist deine Welt, das bedeutet, deine Perspektive ist kleiner als meine, okay? Du bist sauer, weil ich nicht auch die ganze Zeit hier bin. Das ist nicht fair. Ich möchte, daß du einmal ernsthaft darüber nachdenkst. Hast du das verstanden?«
Die Worte seiner Herrin waren leeres Gerede, nichtssagend wie das Summen von Insekten oder das Geräusch, das aus dem Radio auf dem Nachttisch drang. Niles hörte nicht hin. Er blickte zu dem einsamen König Usbeecee hinaus, und der sah ihn an. Niles war gerufen worden. Unheil lauerte über dem Land der Usbeeceer, und Niles allein konnte es abwenden, da nur er wirklich hinhörte. Die anderen sahen zu dem mächtigen König auf und verspotteten ihn insgeheim, weil sie glaubten, der gutmütige König könne sie nicht hören. Sie, sein Volk, hatten Seine Majestät einst gerufen. Sie hatten seine Kindergärten und Horte gewollt, die beruflichen Aufstiegschancen und den Wohlstand, den er garantierte. Und nicht zuletzt seine Kunst. Dann waren sie neidisch geworden auf seine Allwissenheit, auf sein kraftvolles und lobenswertes Wirken. Und nun schmiedeten sie alle, hier und überall, Pläne, ihm die Macht zu nehmen. Niles allein konnte das verhindern.
»Jedenfalls«, sagte West und öffnete mit einem leisen Knall die nächste Dose Bier, während ihre seltsame Katze unablässig in die Nacht hinausstarrte, »ich jage ihn also auf der Siebenundsiebzig mit etwa hundertvierzig Stundenkilometern. Kannst du dir das vorstellen? Wenn du mich fragst, gehört er eigentlich ins Gefängnis.«
Beim nächsten Schluck Miller Genuine Draft überlegte sie, ob sie nicht etwas essen sollte. Zum erstenmal seit dieser Erkältung, die sie vor Jahren gehabt hatte, hatte West keinen Hunger. Sie fühlte sich beschwingt und anders und hellwach. Sie rechnete nach, wieviel Kaffee sie an diesem Tag getrunken hatte, und fragte sich, ob das vielleicht die Ursache war. Aber das war es nicht. Dann waren es die Hormone, beschloß sie, obwohl die Bestie nicht mehr wütete und bereits auf dem Rückzug in ihre Höhle war, um wiederzukehren, wenn der Mond erneut in der entsprechenden Position stand. König Usbeecee war ein wortkarger Herrscher, und Niles mußte sehr aufmerksam sein, um zu hören, was der König sagte. Bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang war der König am redseligsten. Dann spiegelte sich der würdige Herrscher weiß und golden in sämtlichen Fenstern. Nachts beobachtete Niles vor allem das blinkende rote Licht auf der Spitze der Krone, ein Leuchtfeuer, das ihm immer wieder zublinzelte: eins, zwei, drei - und nach einer kaum wahrnehmbaren Pause wieder eins, zwei, drei. Das ging schon seit Wochen so, und Niles wußte, daß dieser Code ihn auf einen dreisilbigen Feind hinwies, dessen Heerscharen in diesem Augenblick der vom König regierten Queen City immer näher kamen. »Du bist ja die Freundlichkeit selbst«, sagte West schnippisch. »Ich kümmere mich mal um die Wäsche.«
Verwirrt sah Niles sie an und streckte sich. In seinem Kopf tobte ein Chaos, das sich in besonders heftigem Schielen widerspiegelte. Was hatte der König noch gesagt? Als Niles am frühen Abend hinausgesehen hatte, hatte der König ihm durch die Sonne Signale gesandt. Hatte er ihm nicht ein aufregendes Muster zugeblitzt, ein Licht, das immer wieder um das Gebäude wanderte, mal in der einen, mal in der anderen Richtung, ganz ähnlich wie bei dem weißen Kasten, wenn sein Frauchen Wäschewaschen sagte? Zufall? Niles glaubte das nicht. Er sprang von der Fensterbank auf die Arbeitsfläche und folgte von dort seinem Frauchen in den Waschkeller. Mit gesträubtem Fell beobachtete er, wie sie in Hosentaschen griff und Geld herausholte, bevor sie die Kleidungsstücke in die Trommel der Waschmaschine stopfte. Weitere Erkenntnisse durchzuckten Niles' Gehirn. In höchster Aufregung rieb er sich an den Beinen seines Frauchens, knabberte an ihr und schärfte seine Krallen an ihrer Hüfte. Er wollte ihr etwas sagen.
»Verdammt!« West schüttelte die Katze ab. »Was, zum Teufel, ist in dich gefahren?«
Brazil lag im Schlafsack auf dem Fußboden seines neuen, unmöblierten Ein- Zimmer-Apartments. Er hatte Kopfschmerzen und mußte Unmengen Wasser trinken. Zwei Tage lang hatte er Bier in sich hineingeschüttet, und das machte ihm angst. Wahrscheinlich hatte es bei seiner Mutter genau
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