Die Hornisse
Psychologe.
»Oh ja.«
»Was sind das für Jaulgeräusche«, fragte Brazil weiter.
»Er macht jaujaujau. Dann ist er einen Moment still und fängt von vorne an. Immer drei Silben.«
»Hört sich an, als wollte Niles dir etwas sagen, und du hörst nicht zu. Ist gut möglich, daß er dich auf etwas hinweisen will, das direkt vor deiner Nase liegt. Aber du bist vielleicht in deinen Gedanken mit ganz anderen Dingen beschäftigt, oder du willst es nicht hören.« Die letzte Bemerkung enthielt eine ge wisse Schadenfreude.
»Seit wann bist du Seelenklempner für Katzen?« West warf ihm einen kurzen Blick von der Seite zu und hatte erneut dieses leichte Schwindelgefühl, diese kribbelnde Unruhe im Bauch. Brazil zuckte mit den Schultern.
»So ist die Natur - des Menschen, der Tiere, wie auch immer. Wenn wir versuchen, die Realität aus der Perspektive eines anderen zu betrachten und ein wenig Mitgefühl für ihn aufzubringen, kann das den entscheidenden Unterschied ausmachen.«
»Unsinn«, sagte West und verpaßte die Ausfahrt Sunset East. »Du bist gerade am Truck Stop vorbeigefahren. Und was meinst du mit Unsinn?«
»Du hast wirklich auf alles eine passende Antwort, Junge.« Sie lachte, aber es klang nicht freundlich.
»Ich bin kein Junge, für den Fall, daß dir das entgangen sein sollte«, sagte er und merkte zum erstenmal, daß Virginia West vor etwas Angst hatte.
»Ich bin volljährig, und ich liefere keine >passenden Antwortend Du mußt in deinem Leben einer Menge übler Zeitgenossen begegnet sein.«
Das amüsierte sie nun wirklich, und sie lachte wieder. Der Regen wurde stärker. Sie schaltete die Scheibenwischer ein und dann das Radio. Brazil sah sie an und beantwortete ihr Lachen mit einem Lächeln. Allerdings hatte er nicht die geringste Ahnung, was an dem, was er gesagt hatte, so amüsant gewesen sein sollte. »Einer Menge übler Zeitgenossen begegnet.« Es blieb ihr fast im Halse stecken. »Womit verdiene ich eigentlich meinen Lebensunterhalt, verdammt noch mal? In einer Bäckerei? Verkaufe ich etwa Eiswaffeln? Oder stecke ich Blumen?« Wieder platzte sie schallend los.
»Ich meinte nicht nur in deinem Beruf«, sagte Brazil. »Es sind nicht die Menschen, mit denen du bei deiner Arbeit zu tun hast, die dich wirklich verletzen. Es sind die Menschen außerhalb deines Berufs. Freunde, Familie, verstehst du?«
»Ja. Du hast recht.« Sie hatte schnell zu einem nüchternen Ton zurückgefunden. »Ich verstehe genau. Und, weißt du was?« Sie warf ihm einen Blick zu. »Du verstehst nichts. Du hast nicht die geringste Ahnung von mir und all dem Dreck, in den ich immer dann geraten bin, wenn ich es am wenigsten erwartet hatte.«
»Und deshalb bist du nicht verheiratet oder mit irgend jemandem fest befreundet«, sagte er.
»Und deshalb wechseln wir jetzt das Thema. Du hast übrigens das Wort.« Sie drehte das Radio lauter. Regen trommelte auf das Wagendach.
Hammer sah aus dem Fenster des Krankenzimmers, in dem ihr Ehemann lag. Draußen regnete es. Randy und Jude saßen steif auf ihren Stühlen neben dem Bett und starrten auf die Monitore, die jede Veränderung des Herzschlags und der Sauerstoffaufnahme anzeigten. Der Gestank wurde von Stunde zu Stunde schlimmer, und die flüchtigen Augenblicke, in denen Seth zu Bewußtsein kam, gingen ebenso schnell vorüber, wie sie kamen. Immer wieder sank er in tiefe Bewußtlosigkeit, und seine Frau und seine Söhne konnten nicht erkennen, ob er ihre Anwesenheit und Zuwendung überhaupt noch wahrnahm. Für seine Söhne war das besonders bitter, entsprach es doch dem, was sie schon immer erlebt hatten. Ihr Vater nahm sie nicht zur Kenntnis.
Der Regen schlug gegen das Fenster und tauchte die Welt in wäßriges Grau. Hammer stand in derselben Haltung da, die sie schon den größten Teil des Vormittags eingenommen hatte. Mit verschränkten Armen stand sie am Fenster, die Stirn an die Scheibe gelehnt, mal in Gedanken versunken, mal völlig leer, und manchmal betete sie. Ihre Kommunikation mit der höheren Macht dort droben beschränkte sich nicht allein auf ihren Mann. Im Gegenteil, eher war sie besorgt um sich selbst. Sie wußte, sie stand an einem Scheideweg. Etwas Neues würde auf sie zukommen, das sie mehr herausforderte, als sie es je an Seths Seite hatte erleben können. Er war ihr all die Jahre immer eine Last gewesen. Ihre Kinder waren fort. Bald würde sie allein sein. Um das zu erkennen, brauchte sie keinen Spezialisten. Die fortschreitende Gier, mit der die
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