Die Hornisse
lag auf ihrem Schoß. Er hatte das so gewollt. Seine Besitzerin hatte es sich in einem Polizeisweatshirt und mit einer Flasche Miller Genuine Draft gemütlich gemacht. Sie las den Artikel, den Brazil über sie geschrieben hatte. Es war wirklich nicht richtig gewesen, so hart mit dem Jungen ins Gericht zu gehen, ohne sich vorher genau anzusehen, was er geschrieben hatte. Sie blätterte raschelnd um und mußte laut lachen. Woher, zum Teufel, hatte er all das Zeug? Sie war so gefesselt, daß sie ganze vierzehn Minuten, elf Sekunden - und die Zeit lief weiter - vergessen hatte, Niles zu streicheln. Er schlief nicht, tat aber so, um festzustellen, wie lange dieser Zustand noch anhalten würde und ob er dieses Versäumnis ihrem Sündenregister hinzufügen mußte. Wenn sie seine Nachsicht überstrapazierte, gab es ja noch das Porzellanfigürchen oben auf dem Bücherregal. Wenn sie glaubte, er könne nicht so hoch springen, würde er sie eines Besseren belehren. Schließlich konnte Niles seine Ahnenreihe bis ins alte Ägypten zurückverfolgen, bis zu den Pharaonen und ihren Pyramiden. Seine Talente waren über Generationen weitervererbt und noch längst nicht alle ausgetestet. Irgendwer schaffte einen Homerun, und West bemerkte es nicht einmal. Sie lachte erneut und griff nach dem Telefon.
Brazil hörte das Läuten nicht auf Anhieb, denn er hämmerte wie besessen auf sein Computerkeyboard ein. Dazu tönte Annie Lennox' Stimme laut aus den Boxen. In der Küche bestrich seine Mutter gerade eine Scheibe Weißbrot mit Erdnußbutter und genehmigte sich einen weiteren Schluck billigen Wodka aus einem Plastikbecher. Bei ihr klingelte das Wandtelefon. Sie schwankte, wollte sich an der Theke festhalten und erwischte einen Schubladengriff. Sie sah bereits zwei blaue Apparate an der Wand, und sie klingelten und klingelten. Als klirrend das Silberbesteck zu Boden fiel, sprang Brazil auf. In der Küche war es seiner Mutter gerade gelungen, den Hörer ihres doppelten Telefons von der Gabel zu reißen. Nun pendelte er an seinem verdrehten Kabel immer wieder gegen die Wand. Sie kriegte ihn wieder fassen, wäre dabei aber fast gestürzt. »Was ist?« lallte sie in die Sprechmuschel.
»Ich würde gern Andy Brazil sprechen«, sagte West nach kurzem Zögern.
»Ist in seinem Zimmer zugange.« Mit schwerer Zunge ahmte sie sein Tippen nach. »Immer, wissen Sie. Glaubt wohl, wird mal ein zweiter Hemingway oder so.«
Mrs. Brazil hatte nicht bemerkt, daß ihr Sohn wie angewurzelt in der Tür stand und sie Worte murmeln und stammeln hörte, in die niemand einen Sinn bringen konnte. Dabei gehörte es zur gemeinsamen Hausordnung, daß sie nie ans Telefon ging. Entweder ihr Sohn nahm die Gespräche an oder der Anrufbeantworter. Hilflos und verzweifelt mußte er zusehen, wie sie ihn schon wieder zutiefst demütigte.
»Ginia West«, wiederholte Mrs. Brazil schließlich, als sie gleich zwei Söhne auf sich zukommen sah. Er nahm ihr den Hörer aus der Hand.
West hatte vorgehabt, einfach nur zuzugeben, daß sie Brazils Geschichte wunderbar fand, daß sie ihr gefiel und sie so etwas gar nicht verdient hätte. Sie hatte nicht erwartet, daß sich eine derart von allen guten Geistern verlassene Frau melden würde. Jetzt wurde ihr alles klar. Sie ließ Brazil nur wissen, daß sie auf dem Weg zu ihm sei. Es war ein Befehl. In den vielen Jahren Polizeiarbeit hatte sie mit den verschiedensten Menschentypen zu tun gehabt, und Mrs. Brazil erschreckte sie nicht weiter - wie übel und feindselig sich die Frau auch benahm, als West sie zusammen mit ihrem Sohn ins Bett gebracht und ihr eine Menge Wasser eingeflößt hatte. Fünf Minuten nachdem ihr West noch zu einem kleinen Geschäft auf die Toilette geholfen hatte, war Mrs. Brazil hinüber.
West und Brazil machten einen Spaziergang auf der dunklen Main Street, in die hier und da Licht aus dem Fenster eines alten Hauses im Südstaatenstil fiel. Der Regen war zu einem sanften Schleier geworden. Er sprach kein Wort. Sie näherten sich dem Campus des Davidson College, auf dem es um diese Jahreszeit sehr ruhig zuging, obwohl einige Sommercamps stattfanden. Ein Wachmann saß in einem Cushman, einem kleinen Elektrofahrzeug, und sah das Paar vorübergehen. Er freute sich, daß Andy Brazil nun vielleicht doch eine Freundin gefunden hatte. Zwar war sie wohl erheblich älter als er, doch immer noch einen Blick wert. Und wenn jemand eine Mutterfigur brauchte, dann er.
Der Wachmann, Clyde Briddlewood, hatte schon zu Zeiten
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