Die Hornisse
Herzen der Stadt entfernt, der zu dienen sie einen Eid geleistet hatte. Schon oft war Brazil hier gewesen, meistens, um sich die mächtigen, farbig getünchten viktorianischen Häuser anzusehen. Violett waren sie gestrichen oder blau, im Farbton von Rotkehlche neiern. Dazwischen anmutige Herrenhäuser mit kunstvoll verzahnten Schieferdachkanten. An den Mauern, den großen Azaleenbüschen und Bäumen ließ sich die Geschichte dieser Umgebung ablesen. Sie alle hatten hier schon gestanden, als noch Pferde durch die schmucken Straßen der Reichen und Einflußreichen trabten.
An einer bestimmten Ecke der Pine Street hielt er an. Hier stand das weiße Haus mit seiner anmutigen Umlaufveranda. Es war beleuchtet, als erwarte es ihn. Auf einer Zierrasenfläche hatte Hammer Inseln mit Immergrün, Stiefmütterchen, Yuccapalmen und Dickblattpflanzen verteilt. Eingefaßt war das Ganze von einer niedrigen Ligusterhecke. Sanft fuhr der Wind durch Gras und Bäume und begrüßte ihn, Hammers Schützling, mit seiner Melodie wie von einer Stimmgabel. Brazil würde nie auf den Gedanken kommen, ihr Grundstück zu betreten. Doch es gab in Fourth Ward viele kleine grüne Flecken, die für die Öffentlichkeit zugänglich waren, mit kleinen Springbrunnen und ein oder zwei Bänken. Einer dieser verschwiegenen Plätze lag neben Hammers Haus. Brazil hatte ihn schon vor längerer Zeit entdeckt. Hin und wieder saß er hier in der Dunkelheit, wenn er nicht schlafen konnte oder nicht nach Hause wollte. Hier war es friedlich, hier lag alles Unglück fern. Hier verletzte er nicht die Grenzen von Hammers Besitz. Er wollte nichts auskundschaften und war auch kein Voyeur. Er wollte einfach nur dasitzen, dort, wo niemand ihn sah. Seine Verletzung ihrer Privatsphäre beschränkte sich auf einen Blick auf ihr Wohnzimmerfenster:
Doch auch dort konnte er, abgesehen vom gelegentlichen Schatten eines Hausbewohners, nichts erkennen. Die Vorhänge waren stets zugezogen. Brazil hatte sich mit seiner verschmutzten Uniformhose auf einer kalten Steinbank niedergelassen. Er starrte ins Leere, und seine Traurigkeit wuchs und wuchs. Er stellte sich Hammer in ihrem eleganten Haus vor. Ihre elegante Familie, ihren eleganten Ehemann. In ihrem eleganten Kostüm telefonierte sie vielleicht gerade per Handy mit einer bedeutenden Persönlichkeit. Brazil fragte sich, wie es wohl wäre, von solch einer Frau geliebt zu werden.
Seth wußte genau, wie das war, und während er seine Eiscremeschale in die Spülmaschine stellte, hing er Gewaltphantasien nach. Er hatte gerade sein spätabendliches Chunky Monkey mit einem fe inen Netz Butterscotch und heißer Karamelsoße überzogen, als Frau Chief mit ihrer Flasche Evian-Wasser in der Hand hereinkam. Und was folgte? Das ewig gleiche Genörgel. Über sein Gewicht, seine Herzkranzgefäße, seine Veranlagung zu Diabetes, seine Bequemlichkeit und seine Zahnprobleme. Er ging ins Wohnzimmer und schaltete Seinfeld ein. Vielleicht konnte er sie ja so zum Schweigen bringen. Was hatte er nur je an Judy Hammer anziehend gefunden? Als sie sich kennenlernten, war sie eine starke Frau in Uniform. Ihren Anblick in dem dunkelblauen Tuch würde er nie vergessen. Was für eine Erscheinung. Er hatte nie mit ihr über seine Phantasien gesprochen, in denen sie ihn überwältigte, fesselte, mit Nadeln stach, ihn festhielt und ihrem Willen unterwarf. Nie hatte sie ihn im Polizeiwagen als Gefangenen seiner erotischen Zwangsvorstellungen abtransportiert. Auch nach so vielen gemeinsamen Jahren wußte sie nichts von diesen Dingen. Und nie war etwas in dieser Richtung passiert. Physisch hatte sie ihn sich nie unterworfen. Nie hatte sie ihn in Uniform geliebt, nicht einmal jetzt, wo sie so viel Abzeichen, Kordeln und Tressen angesammelt hatte, daß sogar das Pentagon beeindruckt wäre.
Wenn sie Gedenkfeiern der Polizei besuchte oder auf Banketts ihre blaue Uniform trug, fühlte Seth sich stets eingeschüchtert. Unterdrückt war er dann, ausgeliefert, frustriert. Doch trotz der langen Jahre der Enttäuschung fand er sie noch immer wunderbar. Wenn sie ihm nur nicht dieses Gefühl geben würde, wertlos und häßlich zu sein. Hätte sie ihn doch nur nicht dazu getrieben. Er hatte sich zwanghaft in diese Richtung verändert, sie hatte seine abartige Bereitschaft geweckt, sein Leben zerstört. Es war ihre Schuld, daß er fett war. Ihr Fehler. Der Chief, seine Ehefrau, hatte nicht die geringste Ahnung von den Wünschen und wollüstigen Phantasien ihres Mannes, auch
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